Gera. Inszenierung von Stephan Thoss und Edward Clug feiert Freitagabend Premiere

Der Sturm donnert, er peitscht Schneewolken vor sich her und hüllt die Bäume am Bühnenprospekt in ein frostiges Winterkleid. In einer Endlosschleife wirft der Projektor Bilder von gefrorenen Zweigen, Blättern und Nadeln an die Leinwand. Eis und Kälte, wohin man schaut.

Diesem Winterwald fehlt jegliche Tannenzapfen-Romantik. Er wirkt bedrohlich, unergründlich. Verstärkt wird dieser Eindruck durch ein uraltes Auto, das scheinbar auf einer Waldlichtung vergessen wurde. Von wem, weshalb?

Mit diesen frostigen Bildern beginnt der Ballettdoppelabend „La Valse/Le Sacre du Printemps“ (Frühlingsopfer) von Stephan Thoss und Edward Clug, der Freitagabend im Theater Gera Premiere feierte. Er wird zu einer Herausforderung für das Thüringer Staatsballett und das Philharmonische Orchester Altenburg-Gera. Und in Teilen auch für das Publikum.

Spärlich gewandete Gestalten bilden verzwickte Knäuel

„La Valse“ von Stephan Thoss zuerst. Der gebürtige Leipziger und Palucca-Absolvent zählt zu den gefragtesten Choreografen bundesweit. Maurice Ravels symphonische Dichtung „La Valse“, entstanden unter dem Eindruck des Ersten Weltkrieges, steht seit Jahren auf Thoss‘ To-do-Liste. Für das Thüringer Staatsballett hat er jetzt diesen Walzer, der so gar nichts mit beschwingter Wiener Walzerlaune zu tun hat, neu in Szene gesetzt und zudem durch Sibelius‘ melancholischen „Valse triste“ und Ravels Frühwerk „Pavane für eine verstorbene Prinzessin“ ergänzt.

Was durchaus stimmig ist für die Walzer-Geschichte des Choreografen. Die strickt er um eine Frau, die sich an ihre Jugendliebe erinnert, an Leidenschaft und Schmerz, Hoffnung und Vergänglichkeit. Kein Drehen im Dreivierteltakt, dafür meist dunkel oder spärlich gewandete Gestalten (Bühne/Kostüme: Stephan Thoss), die sich auf dem Boden winden, kriechen, verzwickte Knäuel bilden, immer und immer wieder. In den Fokus stellt Stephan Thoss ein junges und ein älteres Paar (Stefania Mancini/Giovanni Cancemi sowie Melissa Escalona Gutierrez/Fernando Calatayud Panach). Mit eckigen, kantigen, teils grotesken Bewegungen suchen sie den Weg ins Unendliche.

Kann so sein, oder auch nicht.

Das Wasser dominiert in „Le Sacre du Printemps“: So sehr, dass es wie Sturzbäche auf die Tänzerinnen und Tänzer herabregnet, die auf der glitschigen Bühne weitermachen müssen.
Das Wasser dominiert in „Le Sacre du Printemps“: So sehr, dass es wie Sturzbäche auf die Tänzerinnen und Tänzer herabregnet, die auf der glitschigen Bühne weitermachen müssen. © theater altenburg-gera | Ronny Ristok

Im zweiten Teil des Abends, Edward Clugs Version von „Le Sacre du Printemps“/„Frühlingsopfer“, dominiert das Element Wasser. Der gebürtige Rumäne kreierte das Stück vor gut zwölf Jahren für das Ballett des Slowenischen Nationaltheaters in Maribor. Übrigens, zum 100. Jahrestag der Weltpremiere von Igor Strawinskys Klassiker der Moderne, die zur Uraufführung 1913 einen Riesenskandal ausgelöst hatte und sogar ein Duell, wenn man den Überlieferungen Glauben schenken darf.

Mittlerweile ist Clugs „Frühlingsopfer“ selbst zu einem Meilenstein der modernen Ballettgeschichte geworden: Um den Gott des Frühlings gütig zu stimmen, wählen alte Männer ein junges Mädchen als Opfer aus und schauen deren Todestanz zu. In Clugs Choreografie erflehen sechs Paare in erdfarbenen Trikots mit stampfenden, rhythmischen Bewegungen und erhobenen Armen die Segnung des Himmels.

Ein zu Tränen rührendes Ballett und ein erstaunlicher Konzertabend

Nach gut zehn Minuten öffnen Clug und sein Team (Ausstattung: Marko Japelj, Leo Kulas; Lichtdesign: Tomaz Premzl) die himmlischen Schleusen und lassen Wasserfontänen wie Sturzbäche auf auf die archaische Gemeinschaft herab. Das sieht spektakulär aus und schafft zudem interessante lyrische Momente, etwa wenn die Damen wie stolze Schwäne über die glitschige Bühne schweben und sich dabei von den Herren um die eigene Achse drehen lassen.

Die Wucht der archaischen Bilder, die die Tänzerinnen und Tänzer des Thüringer Staatsballetts ausdrucksstark, mit Virtuosität und Leidenschaft auf die Bühne zaubern, wird nur übertroffen vom Todestanz des Frühlingsopfers. Kim Yeojin rührt fast zu Tränen, wie sie verzweifelt zu entrinnen versucht, die zarten Arme gen Himmel hebt und sich schließlich völlig durchnässt und mit wirrem Haar dem Schicksal ergibt. Berührend.

Ein Ballettabend mit Musik aus dem Orchestergraben wird manchmal zugleich zu einem erstaunlichen Konzerterlebnis. Diese delikate Balance zwischen Bühne und Graben, zumal Ravel und Strawinsky bewältigt werden müssen, gelingt dem Philharmonischen Orchester Altenburg-Gera unter Leitung von Generalmusikdirektor Ruben Gazarian hervorragend.

Weitere Termine: 11. Mai, 19.30 Uhr; 12. Mai, 14.30 Uhr.