Weimar. Gegen Politikmüdigkeit und Missstimmung setzt die Gesellschaft zur Erforschung der Demokratie-Geschichte den Rückblick auf den Aufbaugeist der 1990er-Jahre.

Politikmüdigkeit, Vertrauensverlust, wachsende Zustimmung für rechtspopulistische Parteien und Politiker – angesichts von Krisen und Kriegen zweifeln nicht wenige am demokratischen Gesellschaftsmodell und seiner Problemlösungskompetenz. Mit dem Slogan „Vollende die Wende“ werden sogar Parallelen zur späten DDR des Jahres 1989 konstruiert und ein angeblich wie damals bevorstehender Zusammenbruch beschworen.

Entscheider auf kommunaler Ebene agierten selbstbestimmt

Gründe dafür, dass dies vor allem in Ostdeutschland verfängt, sieht die in Weimar ansässige Gesellschaft zur Erforschung der Demokratie-Geschichte (GEDG) nicht zuletzt in Defiziten der ostdeutschen Erinnerungskultur. Nach 1990 sei es nicht gelungen, aus dem Aufbau- und Aufbruchsgeist der friedlichen Revolution ein starkes Selbstbewusstsein zu entwickeln. Im Vordergrund hätten die Aufarbeitung der SED-Diktatur und die Folgen der wirtschaftlichen Transformation gestanden. „Dass es zwischen November 1989 und Oktober 1990 einen dynamischen, selbst organisierten Demokratisierungsprozess in der DDR gab, wurde bislang völlig unterschätzt und vielfach ausgeblendet, weil am Ende der Beitritt zur Bundesrepublik stand“, sagt Stefan Zänker vom Vorstand der Gesellschaft.

Mit dem in dieser Woche gestarteten Projekt „Demokratieaufbau 1990: Zeitzeugen im Gespräch“ will die GEDG nicht nur daran erinnern, dass die Ostdeutschen sich ihre Demokratie seinerzeit selbstbestimmt erkämpften. Gewürdigt werden sollen Akteure, die in den frühen Wendejahren vor allem in den kleineren Kommunen auf sich gestellt nach pragmatischen politischen Lösungen suchten. Zum Auftakt der Zeitzeugenreihe sprachen Erfurts Nachwende-Oberbürgermeister Manfred Ruge (CDU) und der Weimarer Siegbert Weh, der damals mit der Mitgliedsnummer 1 die SPD in der Goethestadt mitgründete, über Mut und nicht selten unkonventionelle Herausforderungen bei politischen Entscheidungen dieser Zeit. Aufmerksamer Zuhörer war unter anderem der Ostbeauftragte des Bundes, Carsten Schneider (SPD), der die Schirmherrschaft über das Projekt übernahm.

Ostdeutsche Opferdebatte ist ärgerlich

„Anders als auf Landesebene, wo schnell westdeutsche Berater das Ruder übernommen hätten, kamen Bürgermeister, Oberbürgermeister und Landräte auf kommunaler Ebene auch nach 1990 überwiegend aus der jeweiligen Region. Demokratieprozesse fielen so selbstorganisierter aus. Die Parallele zur Gegenwart besteht darin, dass auch heute wieder multiple, von außen einbrechende Krisen und Umbrüche mit den Mitteln der Demokratie und des Rechtsstaates bewältigt werden müssen“, sagt Zänker. Insgesamt 20 Akteure sollen in den kommenden Wochen zu ihren Erfahrungen befragt werden. Begleitet werden die Interviews von öffentlichen Diskussionen. Entstehen soll daraus ein Dokumentenband. „Die ostdeutsche Opferdebatte ist ärgerlich. Wir sind optimistisch, dass sich aus der Erinnerung an den selbstbestimmten Aufbau der Demokratie in Ostdeutschland letztlich ein stärkeres Selbstbewusstsein für den Beitrag der Ostdeutschen zur gesamtdeutschen Demokratie entwickeln kann“, so Zänker.