Tatort Thüringen Spezial: Die wilden 90er-Jahre (3)

Mirko Krüger
| Lesedauer: 6 Minuten
Auch in der DDR gab es Kriminalfälle.

Auch in der DDR gab es Kriminalfälle.

Foto: Steve Bauerschmidt

Nordhausen  Viele kriminelle Karrieren wurzeln in DDR-Zeiten. Drei Amnestien in kurzer Folge.

Nepper, Schlepper, Bauernfänger. Jahrzehntelang hatte das ZDF unter diesem Untertitel eine Sendung ausgestrahlt. Auch unzählige DDR-Bürger gehörten zu den Zuschauern. Die dargestellten Fälle klangen durchaus spannend; andererseits spielten sie trotz der geografischen Nähe in einer fernen Welt...

Pünktlich zum Mauerfall vor 30 Jahren gewann gerade diese Sendung auch in Thüringen immer mehr an Brisanz. Plötzlich standen all die Nepper, Schlepper und Bauernfänger vor hiesigen Haustüren, um über unbedarfte DDR-Bürger herzufallen.

Lässt sich damit der sprunghafte Anstieg der Kriminalität erklären, den das Land in Wende-Zeiten erlebt hatte? Oder gab es auch andere, typisch ostdeutsche Ursachen?

Das Jahr 1990 war erst vier Tage alt, da sorgte eine Verbrechensserie für die ersten übergroßen Schlagzeilen. Ein 32-Jähriger aus Nordhausen hatte Kinder sexuell missbraucht und, so heißt es im Juristendeutsch, einen Mord versucht sowie einen Mord vollendet.

Die Verbrechen des Nordhäusers hatten jedoch mit Mauerfall und deutscher Einheit nichts zu tun. Seine kriminelle Karriere begann 1983 in der DDR. Zwischenzeitlich war er bereits verurteilt worden. Doch schon 1987 kam der Mann durch eine Amnestie wieder frei.

Am 6. Oktober 1988 brachte der Vorbestrafte in Nordhausen erneut ein Kind in seine Gewalt. Er verging sich mehrfach an dem neunjährigen Mädchen. Dazu gehörte für ihn, das Kind zu strangulieren. Dies hätte, so sagte er später aus, seine Lust gesteigert. Das Mädchen starb nach einem stundenlangen Martyrium.

Vor Gericht zeigte der Mörder ein reichliches Jahr später keinerlei Reue: „Ihr Tod kam mir ungelegen. Viel zu früh. Hatte ja kaum etwas von ihr gehabt.“ Er wurde er zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt.

So wie der Nordhäuser waren in den Jahren 1987, 1989 und 1990 Zehntausende Häftlinge in der DDR auf freien Fuß gelangt. Jede dieser Amnestien war politisch motiviert.

Die erste Begnadigung erfolgte im Vorfeld eines Honecker-Besuchs in der Bundesrepublik. Die zweite wurde im Wende-Herbst 1989 erlassen; sie betraf vor allem politische Häftlinge sowie Kleinkriminelle. Der dritte Straferlass erging wenige Tage vor der Wiedervereinigung.

Mit einem Male waren die Gefängnisse weitgehend leer, die Straßen indes gefüllt mit potenziellen Wiederholungstätern. „Angesichts der sich ihnen bietenden Tatgelegenheiten mussten sie sich vorkommen wie im Paradies“, sagt rückblickend Weimars damaliger Kripo-Chef Michael Menzel.

Zu den Thüringern, die in Wendezeiten freikamen, gehörten ein Raubmörder aus dem Großraum Erfurt und ein Dieb aus Apolda. Der Erste stieg alsbald zur Rotlicht-Größe auf. Der Zweite wurde zum Kidnapper und Auftragsmörder. Dagegen waren all die Nepper, Schlepper und Bauernfänger, ja, auch das: vergleichsweise harmlos.

Weitere Folgen von Tatort Thüringen Spezial

Kriminalisten hatten diese Entwicklung vorhergesehen. So warnte der Präsident des Bundeskriminalamtes, Hans-Ludwig Zachert, im Oktober 1990: „Die neu hinzugekommenen Länder werden im Eilschritt die allgemeine Kriminalitätsentwicklung, wie Eigentums-, Betrugs- und Bandenkriminalität oder das sogenannte Rotlicht-Milieu durchmachen, wie das in den 50er- und 60er-Jahren in den Altbundesländern der Fall war.“

Die amtliche Kriminalstatistik, die die Thüringer Polizei damals zu führen begann, führt die Entwicklung vor Augen. Es sind auf den ersten Blick zwar nur nüchterne Zahlen. Aber hinter jeder einzelnen Zahl stehen die Namen und die Schicksale von Opfern...

Im Januar 1992 wurde die erste dieser Kriminalstatistiken öffentlich vorgestellt. Uwe Kranz war damals Chef des Thüringer Landeskriminalamts. Er kommentierte die Zahlen so: „Selbst mich, der ich langjährig in Rheinland-Pfalz tätig war, erschreckt dabei nicht zuerst die steigende Zahl der Fälle, sondern das Ausmaß der Brutalität.“

23 Morde aus dem Jahr 1991 sind in jene erste Statistik eingegangen. Dazu gehört der Fall der zehnjährigen Stephanie aus Weimar. Er konnte aufgeklärt werden – nach 27 Jahren. Der Mörder wurde im vergangenen November zum gleichen Strafmaß verurteilt wie schon 1990 der Kindermörder aus Nordhausen. Er muss lebenslang in Haft.

Mit dem Westgeld kamen die Räuber

Noch vor der politischen Einheit Deutschlands trat am 1. Juli 1990 die Währungsunion in Kraft. Endlich konnten die Bürger der DDR ihr Erspartes ganz offiziell in sogenanntes Westgeld wechseln.

Auch wenn vielen Bürgern der Umtausch nicht schnell genug vonstattengehen konnte, war das Ostgeld bis zuletzt durchaus beliebt – zum Beispiel bei Räubern. So überfiel am 5. Juni 1990 ein maskierter Mann das „Postamt 3“ in Eisenach. Er bedrohte die am Schalter eingesetzte Mitarbeiterin mit einer Pistole. Seine Beute: Zwei Bündeln mit je fünfzig 50-Mark-Scheinen der DDR, dazu kam das ungebündelte Papiergeld. Alles in allem erleichterte er die Postfiliale um fast 10.000 Mark.

In den kommenden Wochen häuften sich die Überfälle auf Tankstellen und kleinere Geschäfte. Die Thüringer Allgemeine berichtete immer wieder über diese Fälle. Dazu gehörte im August 1990 ein Interview mit einem Erfurter Kriminalisten. Er bestätigte „eine zunehmende Risikobereitschaft der Täter. Sie gehen bis aufs Letzte, handeln in Gruppen und die Brutalität nimmt zu.“

Eine geradezu perfekte Entsprechung für diese Beschreibung lieferten Bankräuber am 18. September 1990 in Pölzig (bei Gera) ab. Drei Männer raubten die Sparkasse aus und flohen mit einem gestohlenen Trabant. An einer Straßensperre kam es zu einem Schusswechsel mit der Polizei. Zwei Täter wurden verletzt. Der dritte Räuber warf sie daraufhin aus dem Auto und floh allein weiter; er wurde wenig später gefasst.

„Wir gehen jeden Tag mit Angst auf Arbeit.“ So zitierte die TA im Dezember 1990 mehrere Mitarbeiter von Banken und Sparkassen. Seit der erst ein halbes Jahr zurückliegenden Einführung der D-Mark hatte es in Thüringen bereits 33 bewaffnete Raubüberfälle auf Geldinstitute gegeben. Diese Zahl sollte schon bald weiter steigen...