Brüssel. Die große Europa-Krise ist wohl abgewendet: Kanzlerin Merkel kann vor dem EU-Gipfel erfolgreich vermitteln. Aber wer hat gewonnen?

Um ein Haar wäre der EU-Gipfel in Brüssel am (heutigen) Donnerstag zum großen Debakel für Kanzlerin Angela Merkel (CDU) geworden – jetzt wird das Treffen der Regierungschefs wohl ihr europapolitischer Triumph. Merkel ist es doch noch gelungen, die Blockade des gigantischen 1,8-Billionen-Finanzpakets zu lösen, zu dem auch die europäischen Corona-Aufbauhilfen von 750 Milliarden Euro gehören.

Polen und Ungarn haben ihren Widerstand nach erfolgreicher Vermittlung der Bundesregierung aufgegeben – jetzt müssen nur noch Hardliner auf der anderen Seite, voran die Niederlande, zustimmen. Eine Megakrise während der deutschen EU-Ratspräsidentschaft ist abgewendet, damit ist beim Gipfel auch der Weg für ein neues, ehrgeiziges Klimaziel der EU bis 2030 frei.

Mit Ungarns Premier Orban wäre es fast zum großen Knall gekommen

Merkels großer Gegenspieler wieder einmal: Ungarns Regierungschef Viktor Orban. Ihr Verhältnis war nie ganz einfach. Nach dem Zerwürfnis in der Flüchtlingskrise 2015 hatten sich die Kanzlerin und der ungarische Premier aber eigentlich wieder ganz gut arrangiert. Doch um ein Haar wäre es jetzt zum großen Knall gekommen.

Bundeskanzlerin Angela Merkel und der ungarische Premierminister Viktor Orban: Beim letzten EU-Gipfel begrüßten sie sich freundlich mit dem Ellbogen, diesmal hätte es beinahe großen Krach gegeben.
Bundeskanzlerin Angela Merkel und der ungarische Premierminister Viktor Orban: Beim letzten EU-Gipfel begrüßten sie sich freundlich mit dem Ellbogen, diesmal hätte es beinahe großen Krach gegeben. © dpa | Olivier Hoslet

Orban wehrte sich mit Unterstützung seines polnischen Kollegen Mateusz Morawiecki dagegen, dass das Haushaltspaket (aus Wiederaufbaufonds und dem Sieben-Jahres-Budget der EU) um eine neue Regelung ergänzt wird, nach der die EU einzelnen Mitgliedstaaten Fördermittel bei bestimmten Rechtsstaatsverstößen kürzen kann.

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Denn der „Rechtsstaatsmechanismus“ würde wohl mit Milliardenstrafen als erstes die Regierungen in Budapest und Warschau treffen, die wegen der Eingriffe in die Unabhängigkeit von Justiz und Medien seit Jahren in der Kritik stehen. Um die Verknüpfung der Gelder mit der Sanktionsdrohung zu verhindern, hatten Orban und Morawiecki ein Veto gegen Haushaltsbeschlüsse eingelegt.

Sie beklagen, die mit dem EU-Parlament ausgehandelte Detailregelung gehe weit über das hinaus, was die EU-Regierungschefs im Juli vereinbart hätten, der Willkür von EU-Beamten sei damit Tür und Tor geöffnet.

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Kompromiss: Gelder können erst später gekürzt werden

Andererseits beharrten das EU-Parlament und Mitgliedstaaten wie die Niederlande auf eben jenem Sanktionsinstrument. Die Lage war verfahren, mehrere Einigungsversuche Merkels schlugen fehl. Doch kurz vor dem Gipfel akzeptierten Orban und Morawiecki jetzt doch noch ein in Berlin ausgetüfteltes Kompromissangebot.

Ungarns Regierungschef VIktor Orban (l.) und sein polnischer Kollege Mateusz Morawiecki blockierten aus Protest gegen ein neues Verfahren zur Ahndung von Rechtsstaatsverstößen Entscheidungen für die milliardenschweren Corona-Konjunkturhilfen und den nächsten langfristigen Haushalt der EU.
Ungarns Regierungschef VIktor Orban (l.) und sein polnischer Kollege Mateusz Morawiecki blockierten aus Protest gegen ein neues Verfahren zur Ahndung von Rechtsstaatsverstößen Entscheidungen für die milliardenschweren Corona-Konjunkturhilfen und den nächsten langfristigen Haushalt der EU. © dpa | Czarek Sokolowski

Das Angebot läuft darauf hinaus, dass der „Rechtsstaatsmechanismus“ erst mit einigen Jahren Verzögerung und mit zusätzlichen Auflagen angewendet werden kann. In der „interpretativen Erklärung“ wird zugesichert, dass die Sanktionen „fair, unparteiisch und auf Fakten basierend“ angewendet werden sollen und nur dem Schutz des EU-Budgets vor Betrug, Korruption und Interessenskonflikten dienen; die Zusicherung soll Bedenken ausräumen, die EU könne die Regierungen für ihren politischen Kurs bestrafen.

EU hatte Polen und Ungarn mit Ausschluss bei Corona-Hilfen gedroht

Wichtiger ist aber, dass die EU das Kürzungsinstrument nur anwendet, wenn alle anderen Optionen erfolglos sind – und erst dann, wenn der Europäische Gerichtshof über eine mögliche Klage gegen die Regelung entschieden hat. Orban kann damit rechnen, dass er vor der Parlamentswahl 2022 keine Kürzung von EU-Geldern befürchten muss.

Die Einigung war aber wohl auch dadurch befördert worden, dass die EU Polen und Ungarn zuvor unmissverständlich die Brüsseler Waffen gezeigt hat: Ohne Einigung hätten die EU-Regierungschefs beim Gipfel Wege eingeleitet, zumindest den großen Corona-Wiederaufbaufonds ohne die Beteiligung Polen und Ungarn zu starten. Mehrere Konzepte liegen auf dem Tisch: Statt den schuldenfinanzierten Fonds über die EU-Kommission zu organisieren, könnte er zum Beispiel mit einem Vertrag der 25 anderen EU-Staaten gegründet werden.

Ungarische Regierung spricht von „Sieg“

Der Kompromiss muss beim Gipfel abgesegnet werden. Die Mehrzahl der EU-Staaten signalisierte am Mittwochabend bereits Zustimmung; die Niederlande, Dänemark und Belgien, die auf ein hartes Vorgehen gegen Ungarn und Polen wegen der Rechtsstaatsverstöße drängen, meldeten noch Beratungsbedarf an. Orbans Justizministerin Judith Varga nannte die Lösung einen „Sieg“ für Ungarn. Ihr Land habe politische Erpressung verhindert.

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Der Grünen-Haushaltspolitiker im EU-Parlament, Rasmus Andresen, meinte dagegen: „Orban und Morawiecki drohen als Verlierer vom Platz zu gehen. Anstatt den Rechtsstaatsmechanismus zu verhindern, lassen sie sich jetzt mit einer nicht verbindlichen Erklärung abspeisen.“ Auch der FDP-Europaabgeordnete Moritz Körner sieht eine Niederlage Orbans, zumindest langfristig. Er kritisiert aber, mit der der aufschiebenden Wirkung des Deals lasse Merkel zu, dass Orban bis zur nächsten Parlamentswahl ungeschoren davonkomme.

Mit dem Kompromiss steigen nun auch die Chancen, dass der EU-Gipfel doch noch ein neues Klimaschutzziel beschließt: Die Kommission hat vorgeschlagen, das C02-Reduktionsziel bis 2030 von 40 auf 55 Prozent zu verschärfen (im Vergleich zu 1990).

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Vor allem osteuropäische Länder wollen aber nur zustimmen, wenn die EU den Umbau der Wirtschaft mit Milliardenhilfen unterstützt. Diese Hilfen sind aber nur garantiert, wenn die Haushaltsblockade aufgehoben ist.