Boizenburg . Die AfD will aus Protesten gegen die Corona-Regeln Kapital schlagen. Doch gerade in ihrer einstigen Hochburg gerät sie in Bedrängnis.

Die Drohung am Ende ist unmissverständlich. „Und passen Sie auf, manche Gassen hier sind dunkel“, ruft der mittelalte Mann halblaut am Marktplatz von Boizenburg, im Westen Mecklenburgs. Journalisten seien „nicht willkommen“, ein anderer. Und dann noch: „Wir vermissen Sie hier nicht. Gehen Sie!“

Lesen Sie auch: Wie die AfD die Klimawandel-Debatte erfolgreich im Wahlkampf nutzte

So sieht es ein Mann mit Vollbart und kantiger Brille. So sehen es auch die anderen Männer, die vor ein paar Augenblicken in die Szene getreten sind und sich jetzt um den Journalisten und den älteren Herrn mit seinem Fahrrad sammeln, der gerade noch erzählt hatte, warum er heute hier „spazieren“ geht. „Es ist hier Diktatur 2.0“, hatte er noch gesagt. „Wenn Sie glauben, dass es einen Virus gibt, dann sind Sie hier falsch.“

Corona: Der „Spaziergang“ ist ein Trick, um das Demonstrationsverbot zu umgehen

Boizenburg an einem Montag im Februar. Was hier um 18 Uhr abläuft, passiert zeitgleich an Hunderten anderen Orten in Deutschland. Menschen kommen aus den Nebenstraßen, meist in Cliquen von zwei, drei Leuten. Sie gehen am Marktplatz entlang mit der Marien-Kirche, der kleinen Bankfiliale, dem Imbiss. Dann gehen sie spazieren, wie sie selbst sagen, strömen an diesem Tag in mehrere Richtungen durch die kleine Stadt, gen Hafen oder den Hügel hoch gen Discounter.

In vielen Städten protestieren Gegner der Corona-Maßnahmen mit unangemeldeten Demonstrationen. Sie nennen es verharmlosend „Spaziergänge“. Hier eine Protestszene aus Cottbus.
In vielen Städten protestieren Gegner der Corona-Maßnahmen mit unangemeldeten Demonstrationen. Sie nennen es verharmlosend „Spaziergänge“. Hier eine Protestszene aus Cottbus. © dpa | Patrick Pleul

Der „Spaziergang“ ist ein Trick, um das Demonstrationsverbot zu umgehen. Einen Anmelder der Corona-Proteste gibt es nicht. „Wir suchen noch“, sagt der Einsatzleiter der Polizei, die heute mit 40 Beamten vor Ort sei. Vergangenen Montag eskalierte die Lage kurzzeitig, die Polizei hielt Protestler nach eigenen Angaben fest, überprüfte die Identitäten, weil sich nicht alle an Abstand und Maskenpflicht hielten.

Lesen Sie auch: Meuthens Rückzug aus der AfD kommt viel zu spät

Wer in Boizenburg mit den „Spaziergängern“ spricht, hört wenig Sorge über das Virus, aber viel Wut. Über die Regierung, die Corona-Maßnahmen, die Schutzimpfung. Irgendwann auch über „das System“.

Corona-Proteste: Für manche auf dem Marktplatz ist die AfD bereits Teil dieses „Systems“

Auch Detlef möchte reden. Ein älterer Mann aus Boizenburg, er spricht ruhig, trägt ein bisschen Bauch vor sich her, und lebt schon lange an diesem Ort. Schon die DDR habe er erlebt, aber die Lage heute findet er schlimmer, erzählt, dass „wir nicht mehr in der Freiheit leben“ seit der Pandemie. Detlef sagt, er sei „Sympathisant“ der AfD. „Die sind auch für Freiheit.“ Dass die Partei so „strikt gegen Ausländer“ ist, sei allerdings nicht so seins.

Lesen Sie auch: Wie Rechtsextremisten im ukrainischen Militär mitmischen

Nicht alle sehen das an diesem Abend so wie Detlef. Für andere hier auf dem Marktplatz ist die AfD bereits Teil dieses „Systems“, gegen das sie auf die Straße gehen. Ausgerechnet die AfD – deren Politiker selbst gegen die „Alt-Parteien“ und die „Corona-Diktatur“ agitieren. Ausgerechnet sie verliert offenbar an Zuspruch auf der Straße.

Die AfD lege zwar gute Worte ein, sagt ein junger Mann mit HSV-Rucksack nach dem unangemeldeten Protestzug in Boizenburg. „Aber da habe ich kein Vertrauen.“ Eine Frau mit rosa gefärbten Haaren sagt, dass „alle Parteien verlogen“ seien.

AfD: Partei inszeniert sich als parlamentarischer Arm der „Spaziergänger“

Die AfD gerät in der Pandemie unter Druck. Sie hat es nicht geschafft, sich zum Wortführer der Anti-Corona-Proteste zu positionieren. Ihre Vormachtstellung im rechten Lager ist bedroht. Die AfD inszeniert sich als parlamentarischer Arm der „Spaziergänger“. Teilweise geht die Strategie auf. Die AfD bekommt einerseits viel Zuspruch, bleibt in Umfragen seit Monaten stabil.

Zu Beginn der Pandemie war das ganz anders. Im Frühjahr 2020 hielten die AfD-Spitzen still. Sie suchten nach einem Kompass in der Corona-Krise. Fraktionschefin Alice Weidel forderte sogar „angemessene Schritte“ von der Bundesregierung. Die AfD verlor in dieser Zeit an Bedeutung, fiel in Umfragen. Schnell schwenkte die Partei um auf den Kurs, den sie auch in der Asyl- und Klimapolitik fährt: volle Konfrontation mit den Regierenden.

Doch die Parteistrategen merken auch, dass andere Parteien und Bündnisse besser ankommen mit organisiertem Protest gegen die Corona-Maßnahmen – und an Macht gewinnen. Vor allem im Kernland des Corona-Protests, in Ostdeutschland, vor allem in Sachsen.

„Wir Sachsen gegen die Zwangsimpfung“

Ortswechsel, Zittau. Eine Trommel hallt durch die schmale Straße der sächsischen Stadt. Taktgeber zum Marsch, es klingt nach Militär. Vorne halten Männer ein Plakat: „Wir Sachsen gegen die Zwangsimpfung“. Auf dem Telegram-Kanal verbreiten die „Freien Sachsen“ ein Video, feiern die Aktion. In anderen Videos aus anderen Städten fordern Protestler die Verhaftung von Ministerpräsident Kretschmer, andere skandieren: „Wir Sachsen sind Spitze, niemals Knechte der Spritze!“

In ganz Sachsen sind jeden Montag laut Medienberichten Tausende auf der Straße, knapp 4000 allein in Bautzen in der vergangenen Woche. Im Ort Hohenstein-Ernstthal geht Martin Kohlmann vorneweg und hält das Protestbanner. Kohlmann ist Vorsitzender der Partei „Freie Sachsen“, die die Proteste gegen die Corona-Maßnahmen nach Kenntnis der Sicherheitsbehörden maßgeblich prägt.

Der Verfassungsschutz rechnet Kohlmann der rechtsextremen Bewegung „Pro Chemnitz“ zu. Sein Vize ist Stefan Hartung, langjähriges Mitglied der Neonazi-Partei NPD. Weitere rechtsextreme Kader wie Robert Andres und Michael Brück mischen mit.

Die AfD in Sachsen hat auf ihrem Telegram-Kanal gerade einmal gut 1300 Abonnenten

Die Partei hat mittlerweile fast 150.000 Mitglieder auf ihrem Telegram-Kanal. Der Messengerdienst ist zentrales Kommunikationsmittel unter Anhängern der Corona-Leugner-Szene, extremen Rechten und der Querdenken-Bewegung. Die AfD in Sachsen hat auf ihrem Kanal gerade einmal gut 1300 Abonnenten.

Und nicht nur das. Woche für Woche mobilisieren die „Freien Sachsen“ Tausende Anhänger. Die Töne sind radikal, man feiert die „Widerstandbewegung“ und den „Flächenbrand“ des Protests. Fast ausschließlich geht es gegen die Corona-Maßnahmen der Landesregierung. Der sächsische Verfassungsschutz stufte die Kleinstpartei als rechtsextrem ein.

Die „Freien Sachsen“ bekommen Unterstützung. Die NPD in Sachsen beteiligte sich in einigen Orten an den „Spaziergängen“. Das Parteiorgan „Deutsche Stimme“ interviewte „Freie Sachsen“-Chef Kohlmann. Man stehe „in gutem Kontakt zu dieser neuen Sammelbewegung“.

Rechtsextremismus: Es sind eher lose Verbindungen und Ad-hoc-Allianzen

Auch die Neonazi-Partei der „Dritte Weg“ zeigt sich offen, nennt „Freie Sachsen“ eine „Sammelbewegung aus verschiedensten freiheitlichen und patriotischen Initiativen“. Auch der „Dritte Weg“ wettert gegen die Corona-Maßnahmen, ruft auf zu Demonstrationen. „Das System“ sei „gefährlicher als der Virus“.

Die extrem rechte Gruppe „Ein Prozent“, die der Identitären Bewegung nahesteht, druckt Flyer mit einem „Soli-Fonds“ für die unangemeldeten Demonstranten. Titel: „Das Sicherungsnetz für Patrioten“. Man „stehe hinter den Spaziergängern“.

Es sind bisher eher lose Verbindungen und Ad-hoc-Allianzen, die extrem rechte Gruppierungen auf der Straße eint. Sicherheitsexperten im Bund sehen weniger feste gemeinsame Organisationsstrukturen.

Verschwörungsmythen als Einstieg in den Rechtsextremismus

Und doch, der Aufmarsch von rechts beunruhigt vor allem die Sicherheitsbehörden vor Ort. „Wir erleben seit einigen Monaten eine Radikalisierung der Proteste gegen die Corona-Maßnahmen in Sachsen“, sagt Sachsen Verfassungsschutzchef Dirk-Martin Christian unserer Redaktion. Entscheidend sei die Debatte über die Einführung einer allgemeinen Impfpflicht. „Diese Diskussion über eine Impfpflicht gegen das Coronavirus hat den führenden Köpfen der rechtsextremistischen Szene bei uns im Freistaat enormen Zulauf gebracht.“ Dabei spiele den extremistischen Corona-Gegnern in Sachsen in die Hände, dass laut Studien im Freistaat „fast 30 Prozent der Menschen an Verschwörungstheorien“ glauben. Diese Ideologien seien der Einstieg in den Rechtsextremismus.

Zeichen gegen Rechtsextremismus: Ein Plakat in Cottbus.
Zeichen gegen Rechtsextremismus: Ein Plakat in Cottbus. © ZB | Patrick Pleul

Das ist brisant. Denn wo sich die rechte AfD ihre Hochburg aufgebaut hat, ziehen jetzt extremistische und neonazistische Gruppen nach. Es ist laut Fachleuten eine Dynamik von West nach Ost, die weit über die Pandemie hinausgeht. „Wir sehen eine Bewegung von Rechtsextremisten aus dem Westen nach Ostdeutschland“, sagt Brandenburgs Verfassungsschutz-Chef Jörg Müller. „Neonazis kaufen im Osten des Landes günstig Immobilien, sie veranstalten Konzerte oder gründen neue Gruppierungen. Wir registrieren, dass führende Köpfe etwa der rechtsextremen Szene aus den alten Bundesländern, zum Beispiel aus Bayern und Dortmund nach Brandenburg oder Sachsen gegangen sind. In der Szene sieht man den Osten teilweise als neues ‚Siedlungsgebiet‘.“

Brandenburgs Verfassungsschutz-Chef sieht einen „gefährlichen Trend“

Das reiche bis hin zu Abspaltungsfantasien des „Ostens“ und „der Wiedererrichtung der Mauer als Schutzwall gegen den Islam“, worüber etwa das extremistische Compact-Magazin spreche. „Das ist ein gefährlicher Trend, denn oftmals gibt es in den dünn besiedelten Regionen keine aus sicher heraus starke Zivilgesellschaft, die sich wirksam den Rechtsextremen entgegenstellen kann“, hebt Verfassungsschützer Müller hervor.

In einem Aufsatz in der neurechten Publikation „Sezession“ schreibt der Kopf der Identitären Bewegung, Martin Sellner, im vergangenen September: „Ein identitäre Partei und eine identitäre Bewegung würden weiterhin im Bundestag und in den großen westlichen Metropolen aktiv sein, doch ihre Basis und ihr Machtzentrum im Osten aufbauen.“

Im Machtbereich Ost der AfD sind nun andere rechte Parteien und Netzwerke im Aufmarsch. Für die Strategen der AfD ist das ein Dilemma. Sie schlagen radikale Töne an – wollen zugleich eine Beobachtung durch den Verfassungsschutz verhindern und für „bürgerliche“ Wähler eine Option bleiben. „Wir, als sächsische AfD sind gegen die Impfpflicht“, sagt Andreas Harlaß, Sprecher der AfD in Sachsen. Die Impfpflicht sei „ein schwerer Eingriff in die Grundrechte“. Genauso wie die Einschränkung des Demonstrationsrechts. „Wir haben Protestveranstaltungen angemeldet, als nur zehn Personen zugelassen waren. Wir beteiligen uns sachsenweit an Spaziergängen, die von Bürgern vor Ort angemeldet werden.“

Kleinpartei Freie Sachsen: AfD spricht von einem „politischen Mitbewerber“

Die neue Konkurrenz der „Freien Sachsen“ nennt Harlaß einen „politischen Mitbewerber“. Und: „Klar ist, dass es in Sachsen von Seiten der AfD keine gemeinsamen Veranstaltungen mit den politischen Köpfen der Freien Sachsen gab oder gibt. Wir sind als AfD eine eigenständige Partei, eine Volkspartei.“

In Brandenburg will die AfD nach Kenntnis des Verfassungsschutzes „nicht den Fehler der Partei in Sachsen wiederholen und sich von der neuen Gruppierung ‚Freies Brandenburg‘ bei den Corona-Protesten den Rand ablaufen lassen“, sagt Nachrichtendienst-Chef Müller. Dort würde die AfD gemeinsam mit dem extremistischen Verein „Zukunft Heimat“ den „Markt bedienen“.

Mit Blick auf Sachsen verabschiedete der Bundesvorstand der AfD nun „einstimmig“ einen „Unvereinbarkeitsbeschluss“, setzt die „Freien Sachsen“ auf die schwarze Liste. Für Anhänger der Kleinpartei wird eine Mitgliedschaft in der AfD ausgeschlossen. Zudem gelangt ein „Dossier“ der AfD-Parteizentrale über die „Freien Sachsen“ nach außen. Es ist ein 17 Seiten langer Bericht über Stoßrichtung und Akteure der sächsischen Organisation. Manche sehen Beschluss und „Dossier“ auch als Signal an die Sicherheitsbehörden, nach dem Motto: Schaut her, wir grenzen uns zu Rechtsextremen ab.

Die „Freien Sachsen“ rufen dazu auf, als Bürgermeister zu kandidieren

Vor allem der radikale Flügel der AfD, etwa der Thüringer Landesverband um Björn Höcke, kritisierte die Abgrenzung von den „Freien Sachsen“. Und auch im Netz verstärkt sich bei einigen Wut und Häme gegen die AfD. „Das hätte der Verfassungsschutz nicht besser machen können“, schreiben die „Freien Sachsen“ über das „Dossier“ aus der AfD-Geschäftsstelle. Ein Nutzer auf Telegram kommentiert: „Das ist der Beginn vom Ende der AfD“, und: „Das Geld der Systemlinge ist denen wichtiger“. Ein anderer hetzt, dass die AfD mit „allen anderen Verbrecherparteien“ gleichziehe.

Aktuell werben die „Freien Sachsen“ mit einem Kandidaten für die Landratswahlen im Sommer. Und sie ruft ihre Mitglieder auf, sich als Bürgermeister zur Wahl zu stellen. Und nicht alle in der AfD grenzen sich ab. Zuletzt posteten die „Freien Sachsen“ ein Foto aus Meißen. Parteianhänger halten Transparente in der Hand. „Wir sind die rote Linie“, steht dort. Daneben halten AfD-Mitglieder ein Banner hoch: „Nein zu Impfpflicht“. Die „Freien Sachsen“ kommentieren das Foto: „Weg mit dem Unvereinbarkeitsbeschluss“, und: „Diese Spaltung macht die Basis nicht mit“.