Athen. Ebru Timtik, die in Istanbul wegen Terrorvorwürfen verurteilt wurde, wollte einen fairen Prozess erzwingen. Jetzt ist sie gestorben.

Nur noch 33 Kilo soll Ebru Timtik gewogen haben, als sie am 27. August in einer Klinik im Istanbuler Stadtteil Bakirköy starb. Die Juristin gehörte zu einem linken Anwaltskollektiv, das Regierungsgegner verteidigte. 2019 geriet sie selbst ins Fadenkreuz der Justiz: Ein Istanbuler Gericht verurteilte sie wegen Terrorvorwürfen zu mehr als 13 Jahren Haft.

Am 2. Januar 2020 trat Timtik in einen Hungerstreik. Sie wollte damit ein faires Gerichtsverfahren erzwingen. Zuletzt nahm sie nur noch Wasser, Säfte und Vitamine zu sich. Am 238. Tag des Hungerstreiks versagte ihr Herz. Timtik sei eines „Märtyrertodes“ gestorben, erklärte ihre Anwaltskanzlei.

Es war nicht der erste Tod infolge eines Hungerstreiks in der Türkei. Im April und Mai 2020 waren zwei Mitglieder der linksgerichteten Folkband Grup Yorum gestorben – sie hatten lange Zeit die Aufnahme von Nahrung verweigert. Mit den Hungerstreiks wollten sie gegen Polizeirazzien, staatliche Repressionen und ein Auftrittsverbot protestieren.

Ebru Timtik: Anwaltskollege droht ebenfalls zu sterben

Ebru Timtiks Tod dürfte nicht der letzte sein: Ihr Anwaltskollege Aytac Ünsal, seit Anfang Februar im Hungerstreik, befindet sich in kritischem Zustand in der Istanbuler Klinik Kanuni Sultan Süleyman. Sein Leben sei „in ernster Gefahr“, sagt Mehmet Durakoglu, der Präsident der Istanbuler Anwaltskammer.

Wie Timtik gehört Ünsal zu einer Gruppe von 18 Rechtsanwälten, die wegen angeblicher Mitgliedschaft in der Terrororganisation DHKP-C zu langjährigen Haftstrafen verurteilt wurden. Die Organisation gilt als „türkische RAF“. Ihr Ziel ist der bewaffnete Umsturz und die Errichtung einer kommunistischen Staatsordnung marxistisch-leninistischer Prägung. Sie wurde 1994 als Nachfolgeorganisation der Devrimci Sol, der Revolutionären Linken gegründet, deren Geschichte in die 1970er-Jahre zurückgeht. Die DHKP-C sorgte 1996 mit der Ermordung der Industriellen Özdemir Sabanci und Haluk Görgün für Aufsehen.

Vorwurf: Angebliche Mitgliedschaft bei Terrororganisation DHKP-C

Es folgten Dutzende schwere Anschläge. Meist waren Polizisten das Ziel, oft aber auch Unbeteiligte, wie 2004 beim Attentat auf einen Linienbus in Istanbul. Vier Menschen starben, viele weitere wurden schwer verletzt. Auch in Deutschland ist die DHKP-C aktiv, trotz eines bereits 1998 ausgesprochenen Verbots. Als ein Schwerpunkt der Aktivitäten gilt Köln.

Seit ihrer Gründung hat die DHKP-C mit ihren Selbstmordattentaten und mit dem sogenannten Todesfasten einen regelrechten Todeskult gepflegt. Ende der 1990er-Jahre rief die Terrororganisation zu Hungerstreiks in den türkischen Gefängnissen auf. Mit der Aktion, an der sich auch Mitglieder der Organisation außerhalb der Gefängnisse beteiligten, sollten bessere Haftbedingungen erreicht wurden. 122 Mitglieder starben. Weitere 28 Häftlinge kamen zu Tode, als die Polizei im Dezember 2000 die Aktion mit der Erstürmung der Gefängnisse beendete.

Viele Erdogan-Kritiker werden als Terroristen verunglimpft

Nicht alle, die sich zu Tode hungern, tun es allerdings freiwillig. „Der Gruppendruck war ungeheuer groß“, erinnert sich Hakki S., der sich als Student Ende der 90er-Jahre in Istanbul der DHKP-C angeschlossen hatte. „Die Führung bestimmte darüber, wer ins Todesfasten zu gehen hatte“, so S. „Widerspruch wurde nicht geduldet. Es wurde als große Ehre hingestellt, für den Märtyrertod bestimmt zu werden.“ 2002 sagte er sich von der Organisation los. Heute lebt der 42-Jährige im Ausland.

Vor dem Begräbnis von Ebru Timtik kam es zu Zusammenstößen mit der Polizei.
Vor dem Begräbnis von Ebru Timtik kam es zu Zusammenstößen mit der Polizei. © AFP | YASIN AKGUL

Ob Ebru Timtik Verbindungen zur DHKP-C hatte und wie eng sie waren, bleibt im Dunkeln. Unabhängig davon wirft der Tod der Anwältin aber ein Schlaglicht auf die Rechtsprechung in der Türkei. Die EU-Kommission warf der Türkei nach Timtiks Tod „schwere Versäumnisse“ vor und appellierte an die Regierung in Ankara, sich „glaubwürdig mit der Situation der Menschenrechte in ihrem Land auseinanderzusetzen“. Nach Darstellung von Prozessbeobachtern gab es keine stichhaltigen Beweise für Timtiks angebliche Verbindungen zur DHKP-C.

Dennoch bestätigte eine Berufungskammer das Urteil. Zuletzt lief noch ein Revisionsantrag vor dem Obersten Gerichtshof. Nach Darstellung von Vertretern europäischer Anwaltsorganisationen, die als Beobachter an dem Prozess teilnahmen, sollen die Rechte der Angeklagten in dem Verfahren grob verletzt worden sein.

Türkei: Staatschef Erdogan vorverurteilt Angeklagte

Oppositionelle werden in der Türkei schnell in die Nähe des Terrorismus gerückt. So sitzt der Intellektuelle und weltweit angesehene Mäzen Osman Kavala seit fast drei Jahren in Untersuchungshaft. Ihm wird eine Beteiligung am Putschversuch vom Juli 2016 vorgeworfen. Während die Justiz noch ermittelte, sprach Staatschef Recep Tayyip Erdogan bereits das Urteil über Kavala: Er sei ein „Terrorfinanzierer“, dem man „die nötige Lektion erteilen“ werde.

Auch der bekannte Schriftsteller und Journalist Ahmet Altan musste einen hohen Preis für seine regierungskritischen Kommentare bezahlen. Der 71-Jährige verbüßt eine lebenslange Haftstrafe wegen angeblicher Verbindungen zum Erdogan-Erzfeind Fethullah Gülen. Nach der Verhaftung Altans schrieb der türkische Literaturnobelpreisträger Orhan Pamuk: „Die Gedankenfreiheit existiert nicht mehr. Wir bewegen uns mit großer Geschwindigkeit von einem Rechtsstaat zu einem Terrorregime.“

Ahmet Altan selbst hat im Gefängnis ein Buch geschrieben, für das er 2019 den Geschwister-Scholl-Preis bekam. Es hat den prophetischen Titel „Ich werde die Welt nie wiedersehen“.

Für wie gefährlich der türkische Staat die Anwältin Ebru Timtik selbst nach ihrem Tod noch hält, zeigte sich bei ihrer Beerdigung am vergangenen Freitag in einem Istanbuler Vorort. Ein Großaufgebot der Polizei verjagte die Trauergemeinde mit gepanzerten Fahrzeugen und Tränengas. Wasserwerfer fuhren auf, Polizeihubschrauber kreisten über der Moschee, in der die Feier stattfand. Anhänger skandierten: „Ebru Timtik ist unsterblich.“

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