Tel Aviv. Die Regierung in Israel muss wegen hoher Corona-Fallzahlen erneut die Notbremse ziehen. Wie konnte der erneute Lockdown nötig werden?

Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) schlägt Alarm: Europa müsse sich auf eine Zunahme der Corona-Todesfälle im Herbst einstellen. „Im Oktober und November werden wir eine höhere Sterblichkeit beobachten“, erklärte der WHO-Regionaldirektor für Europa, Hans Kluge.

In Israel zeichnet sich bereits ab, was anderen Ländern noch drohen könnte: Als erstes Land der Welt bewegt man sich hier auf den zweiten Lockdown zu. Ab kommenden Freitag schließen Schulen und Geschäfte drei Wochen lang, nur der Handel mit Lebensmitteln und anderen unverzichtbaren Produkten ist erlaubt, Restaurants dürfen nur noch nach Hause liefern. Die Menschen dürfen sich maximal 500 Meter vom Wohnsitz entfernen. Treffen in Innenräumen sind auf zehn Personen, Treffen im Freien auf 20 Personen beschränkt.

Israel hat sich vom Musterschüler der ersten Epidemiewelle zum Sorgenkind entwickelt. Im Frühjahr starben hier so wenige Patienten wie kaum anderswo an Covid-19.

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Israel: In Hospitälern droht ein Super-Gau

Wenige Monate später steht Israel, gemessen an der Bevölkerung, im weltweiten Ranking der Neuinfektionen auf Platz eins. Zuletzt gab es in dem Land mit rund neun Millionen Einwohnern knapp 3200 Ansteckungen innerhalb von 24 Stunden. Neuer Rekord!

Die hohe Zahl liegt zwar auch daran, dass nun deutlich mehr Corona-Tests durchgeführt werden als während der ersten Welle. Es sind aber die vielen schweren Fälle, die Sorgen machen. Vor einigen Wochen hieß es, mehr als 400 schwere Fälle könnten die Krankenhäuser nicht verkraften. Am Montag zählten die Corona-Stationen aber bereits 529 ernste Fälle. Ein weiterer Ansturm wäre der Super-Gau, heißt es.

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Doch genau das würde ohne Lockdown eintreffen, warnen Gesundheitsexperten. Am Freitag leitet das jüdische Neujahrsfest den Monat der hohen jüdischen Feiertage ein – danach folgt unter anderem das Versöhnungsfest (Jom Kippur), der höchste jüdische Feiertag. Die Synagogen sind an jenem Tag traditionell voll. Säkulare treffen einander bei üppigen Familienessen, zu denen Verwandte aus allen Ecken des Landes anreisen – und damit das Virus auch in jene Gebiete tragen könnten, die bislang weitgehend verschont geblieben sind.

Zweiter Corona-Lockdown in Israel: Der Ärger ist groß

Der Ärger über den verordneten nationalen Schlummermodus ist unter vielen Israelis groß. Aber so richtig wütend sind die Geschäftsleute, die den ersten Lockdown finanziell noch nicht verdaut haben. Einige sind so zornig, dass sie sogar vor laufender TV-Kamera erklären, sie würden das Sperrgebot „ganz bestimmt nicht“ befolgen.

Protest gegen Israels Premierminister Benjamin Netanjahu: Demonstranten in der Stadt Lod kritisieren die Corona-Politik der Regierung.
Protest gegen Israels Premierminister Benjamin Netanjahu: Demonstranten in der Stadt Lod kritisieren die Corona-Politik der Regierung. © dpa | Ilia Yefimovich

Während die meisten Israelis vor allem den Beginn des neuen Lockdowns fürchten, zittern viele Experten schon vor seinem Ende. Sie befürchten, dass sich frühere Fehler wiederholen. Ende Mai war Israel nach der gut überstandenen ersten Welle „von null auf hundert gegangen“, kritisiert Galia Barkai vom Sheba Medical Center. „Ein Fehler war, dass wir alle Kinder zugleich in die Schulen geschickt haben.“

Vor allem in den kinderreichen Familien der jüdischen Ultraorthodoxen und der israelischen Araber breitete sich das Virus ungehemmt aus. Beide Gruppen haben gemeinsam, dass sie mit vielen Kindern auf engem Wohnraum leben und dem israelischen Staat tendenziell misstrauisch gegenüberstehen. Da können Verhaltensregeln wie ein Abstandsgebot noch so sinnvoll sein – wenn sie vom Staat kommen, sieht man sie skeptisch.

Ultraorthodoxer Bauminister: Lockdown Zeichen des „Werteverfalls“

Die Bilder aus Synagogen, in denen Männer dicht gedrängt sitzen und niemand Maske trägt, waren auch der Regierung bekannt. Sie unternahm, trotz Warnungen des Corona-Beauftragten, wenig. Die ultraorthodoxen Parteien sind Teil der Regierung. Zwar stellen sie nur drei der 34 Minister. Doch wer gegen ihren Willen handelt, riskiert, dass die Koalition platzt. Ohne ultraorthodoxe Parteien kommt keine Mehrheit im Parlament zustande.

Wie groß das politische Sprengpotenzial der Ultraorthodoxen ist, zeigte sich am Sonntag. Kurz vor der Regierungssitzung, bei der der Lockdown beschlossen wurde, reichte der ultraorthodoxe Bauminister Yaakov Litzman aus Protest seinen Rücktritt ein. Der frühere Gesundheitsminister, der sich im April selbst mit dem Virus infiziert hatte, bezeichnete den Lockdown als Zeichen des „Werteverfalls“.

Nicht nur die frommen Juden, auch jüngere säkulare Israelis ließen in den vergangenen Monaten die Maske gern baumeln und ihrer Partylaune freien Lauf. „Die Leute sagten: Okay, die erste Welle haben wir überstanden, und sie war gar nicht so schlimm wie behauptet“, betont die Medizinerin Barkai. „Sie mussten die Patienten an den Beatmungsgeräten ja auch nicht mit eigenen Augen sehen.“

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