Thomas Beilner bewertet die Aktienmärkte
Lange Zeit haben Sie an dieser Stelle gelesen, dass es keine Alternative zu der Aktie gibt (Tina: There Is No Alternative)! Mussten wir doch ohne positive Zinsen leben, das Risiko wurde durch die lockere Geld- und Fiskalpolitik unterdrückt und Sie hatten keine andere Wahl, als in Aktien zu investieren, um eine Rendite zu erwirtschaften. Diese Zeiten sind vorbei. Die Anleiherenditen sind nominal wieder positiv. Aktuell hat die Europäische Zentralbank (EZB) zum zehnten Mal die Zinsen angehoben.
Der Hauptrefinanzierungssatz liegt jetzt bei 4,5 Prozent, um dem grundlegenden Trend der inflationären Entwicklung entgegenzuwirken. Statt eines Zinsgipfels wird nun ein Zinsplateau erwartet, auf dem die Zinsen länger hoch bleiben, denn erst für das Jahr 2025 erwartet man die für die EZB relevante Inflationshöhe von rund 2 Prozent. Investments u.a. in festverzinsliche Wertpapiere sind eine Alternative zur Aktie. Tara (There Are Reasonable Alternatives) statt Tina. Ein alter Börsenspruch lautet, dass steigende Zinsen fallende Aktienkurse bedeuten. Aktienengagements werden abgebaut zugunsten von Investments in Anleihen.
Der Blick auf die Aktienmärkte für das laufende Jahr bietet ein anderes Bild. Trotz Inflation, höherer Zinsen und moderatem Wachstum ist die Aktienmarktentwicklung erstaunlich gut. Was ist da los? Der Marktwert einer Aktie ist die Summe aller aus diesem Titel künftig erwarteten abgezinsten Vorteile in Höhe der ausgeschütteten Gewinnanteile. Es wird die Zukunft an der Börse gehandelt und bewertet.
Die Anlagepraxis zieht zur Beurteilung der Preiswürdigkeit einer Aktie oft das Kurs-Gewinn-Verhältnis (KGV) heran. Es sagt aus, mit welchem Vielfachen des momentanen Jahresgewinns eine Aktie derzeit bezahlt wird. Aktien mit einem niedrigen KGV erscheinen preiswerter als solche mit einem hohen. Bei dem US-amerikanischen Index S&P500 ist über einen längeren Zeitraum betrachtet der KGV-Mittelwert bei ungefähr 16 und aktuell für dieses Jahr bei über 18.
Sind US-amerikanische Aktien damit teuer? Getrieben wird der Index von den Amafant-Titeln (Amazon, Microsoft, Alphabet, Facebook/Meta, Apple, Nvidia und Tesla). Von Jahresbeginn an haben diese Titel eine Wertentwicklung von knapp 63 Prozent und der S&P500 rund 17 Prozent erwirtschaftet. Werden die Titel Amafant heraus gerechnet, bleiben beim S&P500 über 5 Prozent übrig. Die geringe Marktbreite der Wertentwicklung mahnt zur Vorsicht. Beschäftigen sich doch alle Amafant-Unternehmen mit Anwendungen rund um die künstliche Intelligenz.
Von diesen technischen Revolutionen sollen alle Tech-Unternehmen, Plattformen, Chiphersteller und Halbleiterspezialunternehmen profitieren und es werden weitere Wachstums- und Umsatzsteigerungen prognostiziert. Erinnerungen zu der Dotcom-Blase Ende des 20. Jahrhunderts werden bei dem erfahrenen Marktbeobachter hervorgerufen mit Titeln wie u.a. Deutsche Telekom, Nokia und Cisco, deren Kurshochs bis heute nicht mehr erreicht wurden. Auch damals wurden die Perspektiven als überaus positiv beschrieben, bis die Blase platzte.
Gerade in diesen Tagen hat sich gezeigt, wie sich Marktregulierungen, Nutzungsverbote, Spannungen zwischen den USA und China auf die Tech-Werte auswirken können. Umso mehr gilt es heute eine nüchterne Abwägung der Chancen und Risiken in der Anlagepolitik vorzunehmen. Tara ist da und sollte genutzt werden. Und nicht zu vergessen: Börsen haben in der Vergangenheit technische Revolutionen oft zu euphorisch bewertet.
Thomas Beilner ist Honorarprofessor für Finanzmarkttheorie an der Universität Erfurt. Sie erreichen den Autor unter thomas.beilner@uni-erfurt.de