Berlin. Flimmern, Schwindel, Kopfschmerzen – neue Präparate mit Antikörpern sind kein Allheilmittel, erweitern aber die Behandlungsoptionen.

Es fängt an mit einem Flimmern um die Augen. Dann wird Kristin Uerpmann aus Werdohl im Sauerland schwindlig. Sie bekommt Sprachfindungsstörungen, fängt an zu stottern. „Ich schreibe E-Mails und vertausche die Buchstaben innerhalb der Wörter“, erzählt die 52-Jährige. „Zum Glück erkenne ich das hinterher und kann es korrigieren.“ In ihrem Arbeitsalltag in einem mittelständischen Unternehmen, in dem sie für Personal und Finanzen zuständig ist, ist das an diesen Tagen dennoch sehr anstrengend.

Uerpmann hat Migräne. Los ging es vor knapp 30 Jahren – da war sie mit ihrem ersten Kind schwanger. „Die Hormone“, vermuteten ihre Ärzte als Auslöser. Wenn sie Glück habe, lege sich das nach der Schwangerschaft. Doch von Jahr zu Jahr wurden die Schübe stärker.

Nach Angaben der Deutschen Migräne- und Kopfschmerzgesellschaft – kurz DMKG – leiden etwa 5,7 Millionen Menschen in Deutschland an einer Migräne. Tendenz steigend. Frauen seien dabei deutlich häufiger betroffen als Männer, so DMKG-Generalsekretär Charly Gaul. Ausmaß und Intensität könnten sehr stark variieren.

An Tag drei und vier fangen die Schmerzen an

Von chronischer Migräne sprechen Experten ab einer Belastung von 15 Migräne-Tagen pro Monat. Uerpmann kommt auf 15 bis 18 Tage – mit einer ungewöhnlich langen Migräne-Phase, die etwa sieben Tage am Stück dauert. „Nach Sehstörungen und Schwindel fangen an Tag drei und vier die Schmerzen an“, beschreibt sie, „meist im Nackenbereich, dann in den Nebenhöhlen, in den Schläfen.“ Ein Stechen, Hämmern, Strom-Gefühl. Diese Schmerzen zögen sich dann bis zu den Augen. Sie werde lichtempfindlich, oft gepaart mit Müdigkeit.

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Wissenschaftler vermuten, dass die Anfälligkeit für Kopfschmerzen in den Genen festgelegt ist – insbesondere bei Migräne. „Wie stark diese ausbricht, ist abhängig vom Alltag und wie man lebt“, erklärt Dagny Holle-Lee von der Deutschen Gesellschaft für Neurologie. Auch was jedem einzelnem Patienten helfe, sei so individuell wie die Krankheit selbst.

Starke Nebenwirkungen durch Beta-Blocker und Anti-Depressiva

Bei Uerpmann ist meist Tag sieben am schlimmsten. „Teilweise waren meine Schmerzen so stark, dass ich mir gesagt habe, dass ich so nicht mehr leben möchte“, erzählt Uerpmann. Nicht-medikamentöse Strategien wie Ausdauersport, Entspannungsverfahren und ein geregelter Tagesrhythmus haben ihr Leid zwar anfangs gelindert, reichen heute aber bei Weitem nicht aus, um der Migräneschmerzen Herr zur werden.

Herkömmliche Migräne-Medikamente wie Beta-Blocker oder Anti-Depressiva – alles eigentlich Arzneimittel gegen andere Krankheiten – verursachten starke Nebenwirkungen. Antiepileptika, die auch bei Migräne eingesetzt werden, kamen bei ihr aus beruflichen Gründen nicht infrage, da diese oft Konzentrations- und Gedächtnisstörungen verursachen. Auch Schmerzmittel zur Akutbehandlung wie Ibuprofen wirkten entweder gar nicht oder wie die meisten der speziellen Migränemittel, sogenannte Triptane, kaum. Obendrein wurde Uerpmann von ihnen schlecht.

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    Migräne Spritzen: Expertin warnt vor überzogenen Hoffnungen

    Ihr Hoffnungsschimmer: Migräne-Spritzen. Eine neue Therapieform, die die Migräne direkt angreift. Seit Ende 2018 ist das erste Präparat auf dem Markt. Es enthält Antikörper, die die Rezeptoren des Botenstoffes CGRP angreifen. Dieser spielt eine wichtige Rolle bei der Entstehung von Migräne: Wie die neuen Wirkstoffe schmerzhafte Migräne bekämpfen.

    Dagny Holle-Lee ist Leiterin des westdeutschen Kopfschmerzzentrums. Auch sie sieht die Spritze als eine Chance für Patienten, bei denen bislang nichts anderes funktioniert hat. „Ich habe jetzt schon einige Patienten gesehen, die darauf extrem gut reagiert haben“, so Holle-Lee. „Aber ich habe genauso Patienten gesehen, bei denen sich trotz der Spritze gar keine Verbesserung gezeigt hat.“

    Sie warnt daher vor überzogenen Hoffnungen. „Die Antikörper-Spritze bringt sicherlich nicht die Heilung der Migräne, auch wenn sie durch die Pharmaindus­trie vielfach so beworben wurde. Aber sie erweitert das Behandlungsspektrum.“

    Patientin hat durch Migräne-Spritze kürzere Migräne-Schübe

    Kristin Uerpmann hat Glück. Bei ihr schlägt die Spritze an. Nach einer Einweisung Ende November spritzt sie sich das Mittel nun alle vier Wochen selbst. „Seit ich die Antikörper bekomme, hilft meine Akutmedizin viel besser – ein Triptan-Nasenspray und Schmerztropfen“, sagt Uerpmann. Auch die Dauer der Migräne-Schübe sei auf etwa fünf Tage zurückgegangen – und die Schmerzen seien deutlich schwächer geworden. Auf einen geregelten Tagesrhythmus und ausreichend Bewegung müsse sie aber nach wie vor achten.

    Auch Holle-Lee betont, dass die neue migräne-spezifische Medikation mit Antikörpern immer nur Teil eines Gesamtkonzeptes sei. „Man muss Ausdauersport machen – Joggen, Fahrradfahren, Inlineskaten, irgendetwas, das einem Spaß macht“, so die Ärztin. „Hinzu kommt Entspannung, beispielsweise mittels Yoga, autogenem Training oder progressiver Muskelrelaxation.“

    Und zu guter Letzt müssten Betroffene ihren Tagesrhythmus optimieren – regelmäßig essen, trinken, schlafen, Ruhepausen einlegen. „Nur dann kann eine Medikation richtig gut wirken“, so Holle-Lee. „Es ist nicht so, dass man einfach alles lassen kann, wie es ist, nimmt diese neue Spritze und plötzlich ist alles weg.“

    Migräne-Spritze bei rund 10.000 Menschen getestet

    In den nächsten Monaten sollen zwei weitere Präparate auf den Markt kommen. Die dort enthaltenen Antikörper wenden sich dann nicht gegen den Rezeptor von CGRP wie bei der aktuellen Spritze, sondern greifen den Botenstoff direkt an. Wie alle neuen Medikamente seien auch die Migräne-Spritzen trotz ihrer geringen Nebenwirkungen mit Vorsicht zu genießen. „Die Antikörper sind jetzt bei rund 10.000 Menschen getestet worden“, erklärt Holle-Lee. „Das waren aber alles junge, gesunde Menschen ohne relevante Vorerkrankungen.“

    Man wisse nicht, was passiere, wenn das Medikament ältere Menschen oder Patienten mit vielen Vorerkrankungen einnehmen oder wenn Frauen beispielsweise während der Einnahme unerwartet schwanger würden. Auch die Langzeitfolgen seien noch ungewiss.

    Patientin: „Über eventuelle Langzeitfolgen denke ich nicht wirklich nach“

    Bei Kristin Uerpmann war die Spritze eine gute Behandlungsoption. Bei ihr übernimmt daher auch die Krankenkasse die Kosten von mehreren Hundert Euro pro Spritze. Die Migräne-Patientin ist für diese Chance unendlich dankbar. „Es war für mich ein Glücksgefühl, mit meinem neuen Rezept in die Apotheke zu gehen und die Spritzen für drei weitere Monate zu bekommen, weil es mir seit der ersten Einnahme so viel besser geht.“

    Sorgen wegen des neuen Präparats macht sich Uerpmann nicht: „Es ist mir so wichtig, mal wieder mehr Lebensqualität zu haben, mich verabreden oder entspannt in den Urlaub fahren zu können, dass ich über eventuelle Langzeitfolgen nicht wirklich nachdenke.“

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