München. Mit welchem Kader geht Joachim Löw in sein letztes Turnier? Die DFB-Comebacks von Müller und Hummels gelten als fix. Ein anderer Topspieler verkündet selbst seinen EM-Verzicht.

Joachim Löw pflegt auch bei seinem allerletzten Turnierkader ein vertrautes Ritual. Er schweigt bis zum letzten Moment.

Nach einer mehrtägigen Klausur mit seinem Trainerstab und Nationalmannschaftsdirektor Oliver Bierhoff vergatterte der Bundestrainer seine engsten Vertrauten wieder als Geheimnisträger.

Bei einer Video-Veranstaltung mit Fans und "Überraschungsgästen" wird der 61-Jährige an diesem Mittwoch (12.30 Uhr) seine 26 Auserwählten für die am 11. Juni beginnende Fußball-Europameisterschaft verkünden. Die Top-Nachricht soll die offizielle Bestätigung der DFB-Comebacks von Bayern-Leitwolf Thomas Müller und BVB-Verteidiger Mats Hummels sein - zwei Jahre nach ihrer eigentlich endgültigen Ausmusterung aus der Nationalmannschaft. Laut Medienberichten ist die Rückholaktion perfekt.

Sicher ist schon, dass der Name von Marco Reus auf Löws Kaderliste fehlen wird. Der Kapitän von Borussia Dortmund sagte ab. Er habe "gemeinsam mit dem Bundestrainer beschlossen, nicht mit zur EM zu fahren", verkündete der 31-Jährige via Instagram. "Diese Entscheidung ist mir sehr schwer gefallen, da ich immer voller Stolz bin, wenn ich für mein Land auflaufen darf. Aber nach einem sehr intensiven Jahr für mich persönlich und dem Erreichen der Ziele beim BVB, bin ich zum Entschluss gekommen, meinem Körper Zeit zu geben, um sich zu erholen!"

Traditionell informieren Löw, sein Assistent Marcus Sorg und Torwartcoach Andreas Köpke die letzten Spieler erst am Morgen der Kaderverkündung. Spezielle Härtefälle - wie die Absage an Torjäger Mario Gomez vor der mit dem Titelgewinn gekrönten Weltmeisterschaft 2014 - übernimmt Löw dabei persönlich. Bei wem klingelt das Handy nun am Mittwochvormittag womöglich noch? Julian Draxler? Julian Brandt? Oder bei einer möglichen EM-Überraschung wie dem Wolfsburger Ridle Baku?

Die Liste der Wackel- und Streichkandidaten ist namhaft und lang. Immerhin muss kein Torwart mehr gestrichen werden. Nach dem EM-Ausfall von Marc-André ter Stegen müssen Kevin Trapp und Bernd Leno nicht mehr um den dritten Torwartplatz konkurrieren. Hinter Kapitän Manuel Neuer, der klaren Nummer 1, sind beide nun dabei.

"Telefonieren tue ich eigentlich ständig im Moment mit allen möglichen Leuten", erzählte Löw vor einer Woche im Berliner Olympiastadion, als er den BVB-Anführern Hummels (32) und Reus beim Dortmunder Titelgewinn im Pokalfinale gegen RB Leipzig zusah. Hummels warb noch einmal mit einer starken Leistung für sich. So, wie es Bayern-Angreifer Müller schon seit über anderthalb Jahren macht.

Reus trumpfte in den letzten Wochen ebenfalls auf, sagte aber ab. "Ich wünsche Jogi und unserem Team alles, alles Gute für die EM und werde als Fan mitfiebern und die Daumen drücken...", schrieb er.

Bei Müller hatte sich Löw vielleicht auch von Hansi Flick überzeugen lassen, seinem ehemaligen Assistenten und designierten Nachfolger auf der Bundestrainer-Position. "Thomas Müller ist ein Spieler, der dir mehr Freude macht als Kopfzerbrechen. Er ist ein Spieler, den man gerne in der Mannschaft hat", betonte der Bayern-Trainer nochmals Ende der vergangenen Woche.

Auch bei Hummels hat Löw offenbar umgedacht. Ob er Hummels gleich wieder eine tragende Rolle zuweisen wird, wird sich im Verlauf der EM-Vorbereitung zeigen müssen. Die Chance, 26 Spieler zu nominieren, könnte Löw auch beim Innenverteidiger zum Umdenken bewegt haben.

"Ich wehre mich nicht, falls ich gefragt werde, noch mal zu helfen", sagte Routinier Hummels zuletzt bei Sky. Die deutsche Abwehr war seit dem Umbruch nach dem WM-Desaster 2018 nie wirklich sattelfest. Sport1 schrieb am Dienstagabend als erstes Medium auf seiner Internetseite, dass Hummels in die Nationalmannschaft zurückkehren werde.

Bekannt ist auch, dass Löw sehr viel von Antonio Rüdiger hält, der in der Regel links innen verteidigt - auf der Position, auf der Hummels 2014 Weltmeister wurde. Es könnte passieren, dass der 28-jährige Rüdiger ins Trainingslager nach Seefeld als Champions-League-Sieger anreist. Am 29. Mai trifft er in Porto mit seinen Chelsea-Kollegen Kai Havertz und Timo Werner im Königsklassen-Finale auf Manchester City mit dem ebenfalls für den EM-Kader gesetzten Ilkay Gündogan.

Dass die Nationaltrainer wegen der Corona-Pandemie ausnahmsweise 26 statt 23 Akteure nominieren dürfen, verschafft Löw drei Bonusplätze. Er hätte sie mit dem kompletten Ü30-Trio Löw, Hummels und Reus besetzen können. "Vor einem Turnier drehe ich mit meinen Trainern alles noch einmal um, was in den Jahren davor war. Wir hinterfragen alles. Wie sieht unsere Spielweise aus? Wie sind unsere Gegner? Wie kann die Zusammensetzung der Mannschaft am besten funktionieren? Es geht um den bestmöglichen Erfolg", schilderte Löw seine Vorgehensweise beim Kader-Puzzle.

Löw weiß nach 15 Jahren als Bundestrainer, dass er es niemals allen recht machen wird. "Wenn der Trainer diese Entscheidung trifft, ist er ein Umfaller. Wenn er die andere trifft, dann ist er stur", bemerkte er. Wenn aber Löw eines in all' den Jahren kaum interessiert hat, so ist es die öffentliche Beurteilung seiner Entscheidungen. "Ich entscheide das, wovon ich persönlich überzeugt bin", lautet sein Credo. Erst recht beim letzten Kader und dem allerletzten Turnier.

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