Herzogenaurach. Kein Nationalspieler stand in 15 Jahren Löw bei Spielen der DFB-Elf häufiger und länger auf dem Platz als Toni Kroos. Am Real-Star wird immer mal wieder herumgemäkelt - aber der Bundestrainer “erduldet“ das.

Bei der Aufstellung zum EM-Mannschaftsfoto irrte Toni Kroos ein wenig umher und suchte seinen Platz im Kreise der Kollegen. Schließlich fand ihn der Star von Real Madrid in der mittleren Reihe zwischen Thomas Müller und Florian Neuhaus.

Auf dem Spielfeld kennt der 31-Jährige solche Probleme vor seinem sechsten großen Turnier mit der deutschen Fußball-Nationalmannschaft nicht: Kroos ist in Joachim Löws Planungen auch bei dieser EM ein Fixpunkt. Er bleibt der Platzhirsch im Mittelfeld und Löws Chef im Zentrum.

"Ich habe mein Spiel überhaupt nicht verändert", verkündete er norddeutsch-trocken. Und in der größtenteils euphorischen Aufbruchstimmung um ihn herum bleibt er wohltuend zurückhaltend bei der Zielsetzung. Das WM-Desaster 2018 und die knifflige Vorrunde mit Weltmeister Frankreich, Europameister Portugal und Ungarn als Gegner raten ihm zur Vorsicht. "Der größte Gegner ist erstmal die Gruppe. Die zu überstehen, wäre schon mal ein Statement", sagte Kroos.

Wichtiger Ansprechpartner für Löw

Im DFB-Team genießt Kroos einen gewissen Sonderstatus. Für Löw ist er einer der wichtigsten Ansprechpartner. Einer, dessen Meinung Gewicht hat. "Wir sind stetig in Kontakt", bestätigte Kroos am Freitag. 136 Spieler hat Löw in seinen 194 Länderspielen als Chefcoach eingesetzt. Keiner kam häufiger (102 Mal) oder länger (7949 Minuten) zum Einsatz.

Elf Jahre nach dem Länderspieldebüt ist Kroos auch jetzt vor der EM für Löw "einfach ein unverzichtbarer Spieler". Und Kroos ist der mit Abstand hochdekorierteste Akteur im 26-köpfigen Kader: Weltmeister 2014, viermal Champions-League-Sieger mit dem FC Bayern (2013) und Real (2016-2018), Club-Weltmeister, deutscher und spanischer Meister, dazu Pokalsieger und und und. Was noch fehlt, ist der EM-Titel?

Trotz der Meriten wird über Kroos kontrovers diskutiert. Löw kennt diese Debatten über Führungskräfte. "Grundsätzlich ist es für mich ja nichts Neues, dass es zu manchen Spielern unterschiedliche Meinungen gibt und dass sich an solchen Spielerpersönlichkeiten bisweilen gerieben wird. Toni Kroos ist jetzt vielleicht auch mal das eine oder andere Mal dran gewesen. Ich kenne das nicht anders nach den vielen Jahren als Bundestrainer", schilderte Löw.

Löw erinnert an 2014

Im dpa-Interview erinnerte er kurz vorm EM-Start gegen Frankreich an die Phase vor dem WM-Triumph 2014, als viele bezweifelten, ob Philipp Lahm, Bastian Schweinsteiger oder Miroslav Klose wirklich zu Champions taugten. "Was ist da zwischen 2012 und 2014 nicht alles geschrieben und gesagt worden über diese Spieler, was teilweise auch unter die Gürtellinie ging", erinnerte Löw. Er kann und will es nicht mehr ändern: "Das muss man dann auch erdulden. Diese Spieler haben dann ja beim Titelgewinn in Brasilien gezeigt, was sie können."

Mit dem Erdulden hat Kroos sicherlich keine Probleme. Er ruht in sich, lässt sich von Experten- oder Medienkritik nicht schrecken. Löw schätzt genau diese äußerliche und innerliche Gelassenheit an Kroos.

Zweifel an Kroos lässt er nicht zu: "Spieler durchlaufen in einer Karriere einen Prozess von guten Spielern zu überragenden Spielern bis hin zu Führungsspielern. Das dauert, das geht nicht von heute auf morgen. Toni Kroos hat diese Entwicklung auch durchgemacht."

Schwer vom Ball zu trennen

Kroos ist für Löw "ein Vorbild an Professionalität. Besser kann man sich nicht auf den Job vorbereiten, mehr kann man nicht machen". Er habe noch keinen Spieler gesehen, der so schwer vom Ball zu trennen sei, berichtete Teamkollege Robin Koch beeindruckt.

Die Übersicht, die Ball- und Passsicherheit, die stoische Ruhe auch in großen Spielen und unter Druck imponiert auch Löw an seinem Taktgeber, den er als Anker fürs Team betrachtet. "Toni ist in einem Spiel überragend - gerade auch dann, wenn es schwierig ist und du auf dem Platz Kontrolle brauchst", rühmte Löw den Mann mit der Nummer 8. Kroos hätte darum am Freitag auf dem Trainingsplatz ahnen können, dass sein Platz auf dem Teamfoto nur im Zentrum sein konnte.

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