Berlin. Gesamtmetall-Chef Stefan Wolf, der Präsident einer der wichtigsten Arbeitgeberverbände des Landes, fordert eine neue Sozialreform.

  • Sollte Hartz IV reformiert werden? Immer wieder gibt es solche Forderungen - auch der Chef des Arbeitgeberverbandes Gesamtmetall schließt sich an
  • Allerdings in einer komplett anderen Richtung als es vielleicht SPD oder Grüne sich wünschen würden
  • Im Interview mit unserer Redaktion spricht Stefan Wolf auch über Tarifverhandlungen, die Corona-Krise und die Bundestagswahl in diesem Jahr

Viel Zeit zum Ankommen hatte Stefan Wolf nicht. Ende November wurde der 59-Jährige zum Präsidenten von Gesamtmetall, dem Zusammenschluss der Arbeitgeberverbände der Metall- und Elektroindustrie, gewählt.

Anschließend begannen direkt die Tarifverhandlungen mit der Gewerkschaft IG Metall für die rund 3,8 Millionen Beschäftigten der Branchen. Wolf ist bestens mit der Materie vertraut: Zum einen stand er acht Jahre lang an der Spitze von Südwestmetall und führte die Verhandlungen direkt. Zum anderen ist Wolf Vorstandsvorsitzender der ElringKlinger AG, einem auf Dichtungen spezialisierten Automobilzulieferer mit mehr als 10.000 Mitarbeitern.

Im Videointerview spricht der Gesamtmetall-Präsident über die Tarifrunde, das Superwahljahr – und über die Hartz-IV-Reformplänen von SPD und Grünen.

Herr Wolf, Gastronomie und Handel sind geschlossen, die Metall- und Elektroindustrie produziert weiter. Trump ist nicht mehr US-Präsident, der Brexit vollbracht, der wichtige Exportpartner China boomt. Großartige Aussichten für ihre Branche, oder?

Stefan Wolf: In der Summe sind die Aussichten zwar nicht rosig, aber besser. Allerdings wir haben einen riesigen Aufholbedarf, denn unsere Branchen haben ja schon vor Corona gelitten. Ein Beispiel aus der Fahrzeug- und Zuliefererindustrie: 2018 wurden 95 Millionen Fahrzeuge weltweit produziert, 2019 waren es noch 90 Millionen und 2020 nur noch 72 Millionen. Daran hängen viele, der Maschinen- und Anlagebau, aber auch Messebauer und -betreiber, Gaststätten und die Hotellerie. Wenn es der M+E-Industrie nicht gut geht, geht es auch anderen nicht gut. Deshalb ist es logisch, dass in der laufenden Tarifrunde es nichts zu verteilen gibt.

Deshalb fordert die IG Metall, ein „Volumen“ anstatt einer reinen Gehaltserhöhung: Mehr Gehalt oder weniger Arbeitszeit, Stichwort Vier-Tage-Woche. Das ist für eine Krise doch ein fairer Vorschlag.

Stefan Wolf: Es ist egal, ob es Volumen und Entgelterhöhung genannt wird. Auch ein Volumen kostet Geld. Die Metall- und Elektroindustrie hat im vergangenen Jahr über 100.000 Arbeitsplätze verloren. Die Menschen haben Angst um ihre Jobs. Die wollen nicht mehr Geld, die wollen einen sicheren Arbeitsplatz.

Gesamtmetall-Präsident Stefan Wolf spricht sich für eine umfassende Sozialreform aus – analog zur Agenda 2010.
Gesamtmetall-Präsident Stefan Wolf spricht sich für eine umfassende Sozialreform aus – analog zur Agenda 2010. © Amin Akhtar

In Ihrer Branche war man in der Vergangenheit üppige Löhne gewohnt.

Stefan Wolf: Das wird zu einer Frage der sozialen Gerechtigkeit in unserem Land. Die Entlohnung in unseren Branchen ist so hoch, dass andere nicht mehr mitkommen. Krankenpfleger arbeiten an der Grenze des Belastbaren, Kindergärtnerinnen sind stark beansprucht, Pfleger in Altenheimen schuften hart. Und die Einkommen liegen deutlich unter denen in der Metall- und Elektroindustrie.

Die Friedenspflicht endet am 1. März. Wird es zu Streiks kommen?

Stefan Wolf: Die Arbeitskosten pro Stunde sind in Deutschland wieder so hoch wie vor der Agenda 2010, als Deutschland als kranker Mann Europas galt. Sie sind höher als in Frankreich, Spanien, Italien. Uns drohen Verlagerungen. Ich habe selbst ein Werk in Frankreich. Es wäre ein Leichtes, ein paar Maschinen per Lkw dorthin zu bringen. Dann wäre das Werk in Deutschland weg. Dafür braucht es nicht einmal den Aufwand, den es etwa macht, wenn man nach Asien auslagert. Ich habe das nicht vor, aber wir dürfen das doch nicht noch weiter befeuern! Das muss die IG Metall verstehen. Immer nur mehr, mehr, mehr bringt niemanden weiter.

Sie wollten als Student mal Diplomat werden. Ein Diplomat arbeitet Kompromisse aus. Wie wird dieser im Tarifstreit aussehen?

Stefan Wolf: Wir brauchen eine langfristige Perspektive. Wenn das Konsens ist, dann haben wir eine Gesprächsbasis für einen Kompromiss.

Hat die Bundesregierung bei der Bewältigung der Corona-Krise Fehler gemacht?

Stefan Wolf: Die Kanzlerin fährt eine gute Linie. Krise kann sie, das konnte sie schon immer. Was mir Sorge macht, ist die Impfstoff-Versorgung. Das hätte man besser machen können. In Deutschland fehlt mir zudem eine Perspektive: Auf Basis des Zahlenmaterials sollte die Politik eine Entscheidung treffen und sagen, ab März oder ab April geht es weiter. Aber alle zwei Wochen den Lockdown zu verlängern, schlägt auf das Gemüt. Völlig fehl am Platz ist die Homeoffice-Pflicht von Arbeitsminister Hubertus Heil.

Es gibt Unternehmen ohne Betriebsrat, wo kein Homeoffice angeboten wird, obwohl es möglich wäre. Dafür ist die Pflicht doch sinnvoll.

Stefan Wolf: Es gibt immer schwarze Schafe. Aber ich wehre mich dagegen, immer alles gesetzlich regeln zu wollen, nur weil es ganz wenige Betriebe gibt, die sich nicht vernünftig verhalten. Herr Heil ist mit seinem Gesetzesvorstoß auf ein Recht auf Homeoffice gescheitert, auch weil es gegen das Gleichheitsgebot verstößt. Und jetzt versucht er es mit einem zweiten Anlauf durch die Hintertür. Dabei ist das Thema auf betrieblicher Ebene viel besser zu regeln. Außerdem: Warum kommt das jetzt eigentlich für unsere Betriebe, während der Staat selbst Probleme mit dem Homeoffice hat?

Dazu ist die Verwaltung oftmals gar nicht in der Lage.

Stefan Wolf: Hier wurde sehr viel verpasst in den vergangenen Jahren. Das muss sich dringend ändern. Wir brauchen in der neuen Legislaturperiode ein Digitalisierungsministerium, das alle Fäden in der Hand hält. Wir müssen in Deutschland führend werden in der Digitalisierung.

Sie sind CDU-Mitglied. Vor einem Jahr haben Sie gesagt, dass Sie Armin Laschet als Vorsitzenden nicht gut fänden…

Stefan Wolf: Man hat bei mehreren Kandidaten immer Präferenzen. Ich bin seit 40 Jahren CDU-Mitglied und fand die Wahlmöglichkeit gut. Jetzt muss man hinter der Entscheidung stehen. Und Armin Laschet hat in Nordrhein-Westfalen zusammen mit der FDP keinen schlechten Job gemacht. Die schwarz-gelbe Koalition kann eine Blaupause für den Bund sein.

Das geben die Umfragen aktuell nicht her. Schwarz-grün gilt als wahrscheinlichste Option – wie in Ihrer Heimat Baden-Württemberg.

Stefan Wolf: Winfried Kretschmann ist ein sehr guter und pragmatischer Ministerpräsident, der unglaublich viel Gehör für die Wirtschaft hat und sich zugleich für die Ökologie einsetzt. Von daher ist es wichtig, wer bei der Bundestagswahl an der Spitze der Grünen steht.

Im Rennen sind Robert Habeck und Annalena Baerbock.

Stefan Wolf: Wenn ein grüner Parteikollege ein großes Bundesland über Jahre hinweg erfolgreich führt, dann kann man über solche Reihenfolgen ja nachdenken. Aber auch eine Parteispitze darf sich in einen Lernprozess begeben.

Das klingt nach einem Denkzettel.

Stefan Wolf: Man kann immer über Dinge nachdenken und etwas lernen. Unsere Industrie bietet fast vier Millionen Menschen einen Arbeitsplatz, sie erwirtschaftet damit rund ein Drittel aller Sozialversicherungsbeiträge und ein Fünftel aller Steuereinnahmen. Wir müssen den Industriestandort Deutschland so attraktiv gestalten, dass er in 25 Jahren noch immer so vielen Menschen Arbeit bietet. Und natürlich müssen wir das mit dem Umweltschutz vereinen. Winfried Kretschmann hat gezeigt, dass er das verstanden hat.

Edmund Stoiber machte einst Wahlkampf mit dem Spruch „Laptop und Lederhose“, um Fortschritt und Tradition zusammen zu bringen. Ist die Zeit reif für einen neuen CSU-Kanzlerkandidaten mit ähnlichem Anspruch?

Stefan Wolf: Ich wünsche mir jedenfalls einen Kandidaten, der diesen modernen Ansatz verfolgt.

Dann ganz konkret: Armin Laschet oder Markus Söder?

Stefan Wolf: Ich habe meine Präferenz, aber die behalte ich für mich. Mir ist wichtig, dass jetzt schnell eine Entscheidung fällt. Soziale Marktwirtschaft, gute Beschäftigung, Wohlstand und Ökologie – diese Themen sind bei beiden Personen gut abgedeckt.

SPD und Grüne wollen einen Umbau des Sozialsystems. Ist dafür jetzt der richtige Zeitpunkt?

Stefan Wolf: Ja, aber in eine ganz andere Richtung. Wir brauchen eine Reform analog zur Agenda 2010. Der Ansatz muss sein, dass es sich lohnt, zu arbeiten. Ich bin dagegen, dass jemand, der nichts tut, obwohl er es könnte, eine Grundsicherung bekommt. Wir dürfen die Sozialversicherungsausgaben nicht weiter erhöhen, wir brauchen bei den Abgaben eine Deckelung von maximal 40 Prozent. Die Arbeitskosten und Lohnstückkosten müssen runter und die Bürokratie muss endlich abgebaut werden. Eine neue Agenda muss mehr Anreize dazu setzen, Leistung zu erbringen.

Die Bundesregierung baut in der Pandemie Rekordschulden auf. Sind höhere Steuern unausweichlich?

Stefan Wolf: Nein, das würde uns nur noch unattraktiver im Wettbewerb machen. Wir müssen die Schulden über Wachstum und Beschäftigung wieder reinholen.

Deutschland ist Spitzenreiter bei den Strompreisen. Mit den CO2-Zertifikaten wird es jetzt noch teuer. Wie geht die Metall- und Elektroindustrie damit um?

Stefan Wolf: Wir haben uns darauf eingestellt. Aber die Energiepreise sind ein weiterer Standortfaktor, die Deutschland unattraktiv machen. Was in den vergangenen Jahren in der Energiepolitik passiert ist, war völlig falsch. Wenn wir jetzt auch noch den Verkehr elektrifizieren, frage ich mich, wo die Energie herkommen soll.

Bei der E-Mobilität war die deutsche Autoindustrie zu träge. Werden Betriebe auf der Strecke bleiben?

Stefan Wolf: Der eine oder andere schon. Wichtig ist, dass wir jetzt auf das Thema setzen, aber den Verbrennungsmotor nicht vergessen. Den wird es in vielen asiatischen und südamerikanischen Ländern noch lange geben. Beim Verbrennungsmotor sind wir die Nummer eins – beim Elektromotor und der Wasserstoff-Brennzelle müssen wir das noch werden.

Immer mehr Länder verbieten Verbrennungsmotoren. Brauchen wir das auch?

Stefan Wolf: Ich habe da Zweifel, und die entscheidende Frage ist, ab wann es gilt. Es hängen viele Arbeitsplätze am Verbrennungsmotor. Die Europäische Union muss sich klare Gedanken darüber machen und in Absprache mit der Industrie abwägen. Denn ein solches Verbot führt zum Verlust von Arbeitsplätzen und Wohlstand.

Ein Verbrennerverbot würde Planungssicherheit in Europa schaffen. Die Produktion könnte ja weiterlaufen – drei Viertel der in Deutschland gebauten Fahrzeuge gehen ohnehin ins Ausland.

Stefan Wolf: Um wegzukommen vom Verbrennungsmotor braucht es eine breite Akzeptanz beim Verbraucher. Dafür benötigen wir in Europa ein einheitliches Ladesäulennetz. Und Fahrzeuge mit hohen Reichweiten. Ich bin ein Verfechter der Wasserstoff-Brennzelle. Die Reichweite vergleichbar mit einem Dieselfahrzeug. In das bestehende Tankstellen-Netz kann Wasserstoff integriert werden.

Der wichtigste Absatzmarkt für Autos ist China, das sich zunehmend abschottet. Wird das gefährlich für deutsche Exporteure?

Stefan Wolf: Wenn wir herausragende Technologien haben, dann kommen die Chinesen an uns nicht vorbei. Sie sind beim Verbrennungsmotor daran gescheitert, uns einzuholen. Jetzt müssen wir auch bei der Batterie und Wasserstoffzelle so gut werden, dass China auf deutsche Produkte angewiesen sein wird.

Was erwarten Sie vom neuen US-Präsidenten Joe Biden?

Stefan Wolf: Joe Biden wird den Freihandel zwischen der EU und den USA voranbringen. Das politische Klima wird sich wieder verbessern. Das ist wichtig, denn China hat sich eine mächtige Position aufgebaut. Wenn wir mit den USA einen gemeinsamen Weg finden, um einen großen Wirtschaftsblock zu formen, dann können wir mithalten.

Die Bundesregierung baut die Frauenquote in großen Unternehmen aus. Begrüßen Sie das?

Stefan Wolf: Ich halte solche Reglementierungen für falsch. In der betrieblichen Praxis sind schon viel mehr Frauen als früher in Führungspositionen. Aber das muss individuell geregelt werden. Und es nur auf die börsennotierten Unternehmen zu beschränken, ist inkonsequent. Man kann es einer GmbH nicht vorschreiben, dann müssen eben die börsennotierten Unternehmen dafür herhalten. Ganz abgesehen von der Frage, wo beispielsweise die Menge an Ingenieurinnen auf einmal herkommen soll, aus denen dann die technischen Vorstandspositionen besetzt werden können.