Martin Debes über politische Mehrheiten in Zeiten der AfD.

In der globalen Internetblase Twitter existiert eine Miniblase, in der sich Menschen, die mit dem obskuren Ding namens Thüringer Landespolitik zu tun haben, streiten oder beschimpfen oder, auch das kommt vor, miteinander reden – und in der spätestens seit dem 5. Februar 2020 auch Menschen unterwegs sind, die in Berlin zu entscheiden oder zu berichten haben. Schließlich weiß man ja nie, wann der aktuelle Ministerpräsident Bodo Ramelow explodiert oder der gewesene Ministerpräsident Thomas Kemmerich etwas mitteilt, was der FDP im Bund total peinlich ist.

Auch sehr örtliche Belange werde in der Blase verhandelt, Lokal- und Landespolitik sind im kleinen Thüringen kaum auseinanderzuhalten. Der Vorsitzende des Apoldaer CDU-Kreisverbands, er heißt Mike Mohring, twitterte zum Beispiel vorige Woche diese sorgfältig ziselierten Sätze: „Wenn es @SPDThueringen, @Gruene_TH und @die_linke_th im #WeimarerLand passt, dann stimmt man (nicht zum ersten Mal) auch gern mit der #noafd im Kreistag ab, um eine Mehrheit zu bekommen und quittiert das auch noch mit Beifall. Was sagt da #r2g dazu?“

Für alle, die mit @ und # oder dem eingangs erwähnten Ding eher wenig anfangen können, sei dies übersetzt: Linke, SPD und Grüne hatten im Kreistag mit AfD und Freien Wählern votiert und dabei die CDU nebst ihrer Landrätin und der FDP überstimmt.

Und, mit der AfD votieren: Das tat bekanntlich die CDU an jenem 5. Februar im Landtag, als sie gemeinsam mit Björn Höckes Fraktion und der FDP Kemmerich zum Ministerpräsidenten wählte – was unter anderem dazu führte, dass Mohring als Landes- und Fraktionschef abtreten musste.

Was also, wollte der damals Gestürzte nun auf Twitter von der rot-rot-grünen Minderheitskoalition wissen, sagt sie dazu, dass für Linke, SPD und Grüne in Apolda erlaubt sein soll, was in Erfurt der CDU verboten ist? Der Landtagsabgeordnete Steffen Dittes, nebenher Linke-Landesvize, antwortete sogleich. Mohring erzähle „Blödsinn“, twitterte er.

Was stimmt? Die Verhältnisse im Apoldaer Kreistag sind noch unübersichtlicher als im Erfurter Landtag. Nach Wechseln und Fusionen gibt es acht Fraktionen, Gruppen oder Einzelabgeordnete. Der Größe nach geordnet sind dies: CDU (17 Sitze), AfD (8), Freie Wähler (7), Linke (5), SPD (3), Grüne (3), FDP (2) und ein Neonazi, der NPD zugehörig.

Bei 46 Sitzen beträgt die Mehrheit 24 Stimmen, wobei zusätzlich die Stimme der CDU-Landrätin einzurechnen ist. Union und FDP bilden ein Bündnis, mit dem oft die Freien Wähler stimmen, was in der Summe eine solide Mehrheit von 27 Stimmen bedeutet.

Aber selbst wenn die Freien Wähler sich mit Linke, SPD und Grünen gegen die Union verbünden, brauchen sie gegen die 20 Stimmen von CDU, Landrätin und FDP was? Genau! Mindestens einige Kreistagsmitglieder der AfD. In diesem Moment wird dann die Partei, mit der ja keiner offiziell kooperieren will, automatisch zum Mehrheitsmacher im Kreistag.

Dieses Phänomen war nicht nur im Februar im Landtag zu beobachten, sondern auch in vielen, bevorzugt ostdeutschen Lokalvertretungen. Ob es nun in Hildburghausen um das Freibad ging, in Eisenach um Personalien, in Gera um den Stadtratsvorsitzenden, im brandenburgischen Forst um einen Jugendclub oder im mecklenburgischen Penzlin um Ausschüsse: Mal ließ sich die CDU, mal die SPD, mal die Linke mit der AfD ein.

Und war es nicht Ramelow selbst, der im Landtag mit seiner Abgeordnetenstimme mit dafür sorgte, dass die AfD nach mehreren vergeblichen Versuchen einen Parlamentsvizepräsidenten bekam? Ja, klar, die Höcke-Fraktion beendete danach die Blockade des Ausschusses, der die Richter im Land ernennt. Aber dass dieser Preis gezahlt werden muss, daran zweifeln viele Linke gar sehr.

Vielleicht ist es ja so: Eine stimmenstarke Partei, die zu ignorieren ist, produziert immer ein Dilemma – was übrigens, ohne hier irgendetwas gleichzusetzen, die SPD schon bei der PDS lernte und die Thüringer CDU heute mit der Linken erfährt. Und vielleicht sollten darum alle Seiten mit gegenseitigen Vorwürfen etwas vorsichtiger sein. Im Unterschied zur Bigotterie ist Unschuld in der Politik ein rares Gut.