Henryk Goldberg wundert sich über ein unberatenes Gericht.

Also, letzthin gab es hier, in Weimar, Demonstrationen vor dem Amtsgericht. Rosen, nicht für den Staatsanwalt, für einen Richter. Weiße Rosen.

Die belegten vor allem, dass nicht nur Jana aus Kassel unberaten ist. Sie galten einem Richter, der verfügt hatte, dass Masken und Abstand wegen Corona an der Schule Mumpitz sind. Woraufhin eine übergeordnete Instanz den Beschluss aufhob, der Familienrichter habe seine gesetzliche Kompetenz überschritten. Was wiederum, aus der Sicht wahlweise dummer oder ignoranter Mitbürger, belegte, wie sehr die Justiz doch unter der Knute des Regimes stünde. Und da ist man halt ein bisschen Sophie Scholl, nun ja.

Auch in Erfurt gibt es derzeit Demonstrationen vor einem Gericht, es ist das Landgericht, das vorübergehend in der Messe verhandelt. Aber vielleicht sollte man hier, dem eigentlichen Charakter des Ortes Rechnung tragend, vom Handeln sprechen, vom Schachern, von Angeboten und Preisen, von Deals und Geschäften. Schmutzigen Geschäften.

Auch hier hatte eine höhere Instanz, der Bundesgerichtshof, ein Urteil aufgehoben. Im Februar 2014 überfielen elf rechtsextreme Schläger in Ballstädt eine Kirmesgesellschaft, es gab mehrere Verletzte, einige wirklich schwer. Dieser Vorgang ist unstrittig, unter allen Beteiligten. Kaum waren drei Jahre vergangen, schon gab es Urteile, zum Teil beträchtliche Freiheitsstrafen. Und nach wiederum ungefähr drei Jahren hob der BGH das Urteil auf. Nicht, weil das höchstinstanzliche Gericht die Schuld der Angeklagten bezweifelte, vielmehr gilt die Beweisführung als „durchgreifend rechtsfehlerhaft“, was sich für den Laien wohl ungefähr so übersetzen lässt: Pfusch.

Und nun müssen sie also neu verhandeln und ermitteln, als habe der erste Prozess nicht stattgefunden. Alles auf Anfang. Das ist belastend, vor allem für die Opfer von damals, die in ihrem Dorf, 674 Einwohner, dem einen oder anderen der grinsenden Mitbürger begegnen müssen, die damals fröhlich die Fäuste und die Schläger schwangen.

Aber unsereiner neigt dazu, die Probleme des Gerichtes zu unterschätzen. Denn für die Justiz ist das nun ja wirklich doof. Alles von vorn, die ganze Beweisaufnahme. Das kostet, Zeit, Geld, Nerven. Und die Gerichte, das wissen wir, sind unterbesetzt und überlastet. Da machen wir doch lieber einen Deal, ein Geschäft. Die einen gestehen, die anderen bewerten neu. Die einen sparen Zeit, viel Zeit, im Gerichtssaal, die anderen Zeit, noch mehr Zeit im Knast. So können, nur mal als Beispiel, aus drei Jahren und sechs Monaten in der Zelle, zwei werden – in Freiheit, denn bis zu zwei Jahren kann eine Haftstrafe zur Bewährung ausgesetzt werden.

Die Staatsanwaltschaft muss auch zustimmen, die Nebenkläger allerdings nicht, denn die vertreten ja nur die Opfer. Und um die geht es hier schon mal gar nicht, für deren Traumatisierung, für deren Empfinden ist dieses Gericht ja nicht zuständig.

Solche Verfahrensabsprachen können in manchen Fällen sinnvoll sein, etwa um Opfern sexueller Gewalt die peinigende Darstellung vor Gericht zu ersparen. Dann bekommt der Täter einen Straferlass, weil er dem Opfer eine weitere Demütigung, ein nochmaliges Durchleben der Tat erspart. Aber hier? Hier gibt es Straferlass, weil das Gericht gepfuscht hat.

Hier gewinnen aber auch alle anderen, eine Erfahrung nämlich: Die Erfahrung, dass das in einem Rechtsstaat gesprochene Recht allem Rechtsempfinden Hohn sprechen kann. Dass im Zweifelsfall die egoistischen Interessen des Apparates wichtiger sind als die menschlichen Interessen der Opfer und die gesellschaftlichen Interessen des Landes. Mit anderen Worten, dass ein Gericht, im Rahmen der Gesetze, bereit ist, auf so ziemlich alles zu pfeifen, was diese Gesellschaft konstituiert, die Würde des Einzelnen, das Vertrauen in den Rechtsstaat. Gesetze und ihre Anwendung sind so etwas wie die institutionalisierte Moral der Gesellschaft – und dieses Signal, das das Landgericht Erfurt unbekümmert aussendet, das ist moralisch verheerend.

Diese Geschichte hat, in gewisser Weise, tatsächlich mit Sophie Scholl zu tun, mit Geschichte und ihren Folgen. Aber kein Gesetz zwingt ein Gericht, so etwas zu wissen.