Berlin. Gab es Kannibalen in Europa? Laut einer neuen Studie war das Verspeisen von Verstorbenen eine weitverbreitete Praxis in der Eiszeit.

Vor rund 15.000 Jahren standen bei den Menschen in Europa nicht nur Mammut, Beeren und Fisch auf dem Speiseplan – sondern auch Menschenfleisch. Anstatt ihre Toten zu begraben, scheinen viele Europäer der Eiszeit sie lieber gegessen zu haben. So haben Archäologen an mehreren über den Nordwesten Europas verteilten Ausgrabungsstätten menschliche Knochen gefunden, die Bissspuren ihrer Artgenossen aufweisen. Trieb der Hunger die Menschen zum Kannibalismus? Oder steckte mehr dahinter?

Eine neue Studie von Wissenschaftlern des britischen Natural History Museum (NHM) versuchte genau das herauszufinden. Ihren Anfang nahm die Untersuchung in der berühmten „Gough‘s Cave“, einer Höhle in einer Kalksteinschlucht im Südwesten Englands. Hier fanden Archäologen seit den 80er-Jahren mehr als 100 menschliche Knochenfragmente, die einen gruseligen Einblick in die prähistorische Welt bieten. Sie stellten an den Knochen sowohl Biss- als auch Schnittspuren fest. Drei menschliche Schädel bearbeiteten die eiszeitlichen Bewohner Britanniens wohl sogar so, dass sie als Becher genutzt werden konnten.

Die berüchtigten Schädelbecher in der Nahaufnahme.
Die berüchtigten Schädelbecher in der Nahaufnahme. © Trustees of the Natural History Museum (NHM) | Trustees of the Natural History Museum (NHM)

Kannibalismus in Europa: Kulturelle Unterschiede zwischen Norden und Süden

Und mit dieser Praxis waren die Bewohner der „Gough‘s Cave“ laut der neuen Studie nicht alleine. Als sogenannte Magdalenische Kultur werden die Menschen vor etwa 17.000 bis 11.000 Jahren bezeichnet, die den Nordwesten Europas besiedelten. Unter anderem in Ausgrabungsstätten in Frankreich, Spanien und auch Deutschland fanden die Autoren und Autorinnen der Studie Anzeichen für Kannibalismus. Zusammengenommen seien sie der älteste Hinweis auf den Einbezug von Kannibalismus als Bestattungsritus. „Anstatt ihre Toten zu beerdigen, aßen diese Leute sie“, erklärt Dr. Silvia Bello, Expertin für die Evolution menschlichen Verhaltens und Co-Autorin der Studie, in einer Pressemitteilung.

Kannibalismus sei zu mehreren Anlässen während einer kurzen Zeitperiode vor rund 15.000 Jahren praktiziert worden. Für viele Magdalenische Menschen war Kannibalismus also Teil einer traditionellen Bestattung und nicht nur eine Notlösung in Zeiten des Hungers. Damit unterschieden sie sich von dem anderen großen europäischen Kulturraum dieser Zeit, der Epigravettian-Kultur. Die Menschen der Epigravettian-Kultur lebten in Italien und im Südosten Europas. Nicht nur bearbeiteten sie ihre Steine und Knochen anders, sie beerdigten auch lieber ihre Toten, anstatt sie zu essen.

Eine Karte zeigt die Ausgrabungsstätten der Magdalenischen Kultur, in denen sich Hinweise auf Kannibalismus fanden. 
Eine Karte zeigt die Ausgrabungsstätten der Magdalenischen Kultur, in denen sich Hinweise auf Kannibalismus fanden.  © Trustees of the Natural History Museum (NHM) | Trustees of the Natural History Museum (NHM)

Insgesamt untersuchten die Wissenschaftler 59 Ausgrabungsstätten der Magdalenischen Kultur, von denen 13 Hinweise auf Kannibalismus lieferten. Genug, um für die Forscher darauf schließen zu können, dass die Praxis unter den Magdalenen weitverbreitet war. In zehn der Stätten fanden sie Erdbestattungen samt Grabbeilagen, in zwei der untersuchten Orte fanden sich Hinweise auf beide Praktiken. Eine Genanalyse bestätigte zusätzlich, dass es sich um die Mitglieder des gleichen Magdalenischen Kulturraums handelte.

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Als der kulturelle Kannibalismus in Europa ein Ende nahm

Die Magdalenische und die Epigravettian-Kultur lebten lange geografisch getrennt voneinander. Dass in Europa die Menschen ihre Toten nicht noch viel länger kannibalisierten, lag wohl auch an der Ausbreitung der Epigravettian-Kultur. „Während dem Ende der Altsteinzeit stellt man einen Wechsel der genetischen Abstammung und des Bestattungsverhaltens fest“, erläutert der leitende Autor der Studie, William Marsh.

Mit der Migration der Epigravettian in den Norden verlieren sich die Spuren des Kannibalismus. Es sei deshalb anzunehmen, dass ein Bevölkerungsaustausch stattfand, der auch eine Änderung des Verhaltens der Menschen nach sich zog. Von nun an bestatteten die Menschen ihre Toten meistens in der Erde.

Den ältesten Hinweis darauf, dass Menschen sich gegenseitig aßen, datieren Archäologen auf 1,45 Millionen Jahre. Auf dem Knochen einer entfernten Menschenart fanden die Forscher Schnittspuren, die wohl von einem Steinwerkzeug stammen. Kannibalismus könnte demnach schon so alt wie der Mensch selbst sein.

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