Jerusalem. Reservisten gehen auf die Straße, verweigern ihren Dienst. Können sie die Reformpläne der rechts-religiösen Regierung noch stoppen?

  • Der Protest gegen die geplante Justizreform in Israel ebbt nicht ab
  • Am Montag soll das Vorhaben von der Knesset, dem israelischen Parlament, beschlossen werden
  • Der gesundheitlich angeschlagene Premierminister Benjamin Netanjahu ist unterdessen aus dem Krankenhaus entlassen worden

„Ihr seid unsere Champions, wir bauen auf euch“, ruft ein älterer Mann, als eine Gruppe sportlicher Männer in olivgrünen T-Shirts in Jerusalem an ihm vorbeimarschiert. Man sieht sie in allen Ecken des Landes: Die „Waffenbrüder“, eine Protestplattform von Reservisten der israelischen Streitkräfte, sind zur Speerspitze der Proteste gegen die umstrittene Justizreform der Regierung unter Benjamin Netanjahu geworden.

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Es könnte der Protest der Reservisten sein, der die rechts-religiöse Regierung letztlich davon abhält, den Obersten Gerichtshof zu entmachten und damit die Regierung der Kontrolle durch die Justiz zu entziehen. Am Wochenende verkündeten mehr als zehntausend Reservisten aus vierzig unterschiedlichen Einheiten der Armee, künftig nicht mehr für den Dienst zur Verfügung zu stehen, sollte die Regierung die Justizreform nicht stoppen.

Die Massenproteste gegen die umstrittene Justizreform dauerten auch am Wochenende an.
Die Massenproteste gegen die umstrittene Justizreform dauerten auch am Wochenende an. © imago/Xinhua | mago stock

„Wir wurden vereidigt, dem Königreich zu dienen, nicht dem König“, sagte einer von ihnen in einer emotionalen Rede. „Wir sind entschlossen, wir sind Kämpfer, wir lieben dieses Land, wir geben es nicht auf.“ Unter den streikenden Reservisten finden sich auch Kampfpiloten und Mitglieder von Eliteeinheiten, die zu regelmäßigen, teils sogar wöchentlichen Trainings gerufen werden. Bleiben sie den Trainings und Einsätzen fern, bedeutet das langfristig eine Schwächung der Armee.

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Reservistenprotest zeigt erste Wirkung

Einen Minister der Netanjahu-Regierung dürften die Reservisten bereits überzeugt haben: Verteidigungsminister Joav Gallant kündigte an, der Justizreform seine Stimme zu verweigern, sollte das Gesetz nicht noch abgeschwächt werden. Die Koalition hätte jedoch auch ohne Gallant eine Mehrheit im Parlament.

In den Streitkräften herrscht wegen des breiten Reservistenprotestes einige Nervosität. Generalstabschef Herzi HaLevi wandte sich am Sonntag in einem Schreiben an Reservisten und Mitglieder der Armee. HaLevi spricht von „gefährlichen Brüchen“ in der Einheit der Armee. Er rief die Reservisten auf, ihren Boykott zu beenden. „Wenn unsere Armee nicht stark und vereint bleibt und wenn nicht unsere besten Kräfte in den Streitkräften dienen, werden wir als Staat auf lange Sicht nicht in dieser Region bestehen können“, erklärte HaLevi.

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Der Generalstabschef hätte eigentlich Sonntagmorgen zu einem Briefing mit Benjamin Netanjahu zusammentreffen sollen, um ihm einen Lagebericht über die Folgen des Reservistenstreiks zu übermitteln. Der Zeitpunkt des Briefings war kritisch: Um zehn Uhr begann das Plenum im Parlament, um den ersten Teil der umstrittenen Justizreform zu debattieren. Montagvormittag soll dann in zweiter und dritter Lesung abgestimmt werden. Der Premierminister sollte also im Vorfeld der entscheidenden Parlamentssitzung ins Licht der Tatsachen gesetzt werden.

Justizreform: Netanjahu will „einen breiten Konsens“ suchen

Dazu kam es am Sonntagmorgen jedoch nicht. Wie das Büro des Premierministers in den frühen Morgenstunden mitteilte, habe sich Netanjahu einem operativen Eingriff unterzogen, dem 73-Jährigen sei ein Herzschrittmacher eingesetzt worden. Bereits eine Woche zuvor hatte Netanjahu unter rätselhaften Umständen eine Nacht in der kardiologischen Abteilung des Sheba-Krankenhauses verbracht.

Damals hatten die Ärzte noch betont, der Politiker sei bloß „dehydriert“, an seinem Herzrhythmus sei nichts auszusetzen. Eine Woche später gaben die Mediziner zu, nicht ganz bei der Wahrheit geblieben zu sein. Kurz bevor er sich dem Eingriff unterzog, gelobte Netanjahu jedenfalls, er werde in puncto Justizreform „einen breiten Konsens“ suchen. Davon war man am Sonntag noch weit entfernt. Am Montagmorgen wurde Netanjahu schließlich aus der Klinik entlassen – pünktlich zur geplanten Verabschiedung der Justizreform in der israelischen Knesset.

Immer mehr einflussreiche Stimmen, auch aus dem konservativen Lager, appellieren an Netanjahu, den Gesetzgebungsprozess zu stoppen. So verfassten mehrere frühere Generalstabschefs, Geheimdienstchefs und hohe Sicherheitsberater einen offenen Brief, in dem sie den Premierminister aufriefen, „Verantwortung zu übernehmen, die Gesetzgebung zu stoppen und einen Prozess des Dialogs mit breiter Zustimmung im Volk und in der Knesset einzuleiten“.

Demonstranten stellen ihre Zelte in der Nähe des israelischen Parlaments und des Supreme Courts in Jerusalem als Zeichen des Protests auf.
Demonstranten stellen ihre Zelte in der Nähe des israelischen Parlaments und des Supreme Courts in Jerusalem als Zeichen des Protests auf. © AFP | HAZEM BADER

Massenproteste von Befürwortern und Gegnern: Tränen bei Parlamentssitzung

Befürworter und Gegner des Regierungsplans zur Entmachtung der Justiz trommelten am Sonntag jeweils zu Massenprotesten. Mit den Worten „Das Volk steht zu euch! Verabschiedet das Gesetz!“ rief die rechte Plattform „Protest der Million“ zur Demo nach Tel Aviv, während das gegnerische Lager rund um das Parlament in Jerusalem für einen Stopp der Gesetzgebung protestierte. Die Hartgesottenen verlegten sogar ihren Lebensmittelpunkt vorübergehend in einen Park unweit des Obersten Gerichtshofs, wo sie Zelte aufgestellt und die Rasenfläche zum „Protestcamp“ erklärt haben.

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Im Parlament wurde am Sonntag heftig und emotional debattiert. „Unser Land steht in Flammen. Ihr habt unser Land zerstört, ihr habt unsere Gesellschaft zerstört“, rief Orit Farkash-Hacohen, Abgeordnete der Nationalen Einheitspartei unter Benny Gantz, unter Tränen in Richtung der Koalitionsabgeordneten.

Oppositionsführer Jair Lapid rief die Regierung auf, erneut zu Verhandlungen über einen möglichen Kompromiss zusammenzutreten. Zwar gibt es in Netanjahus Likud-Partei Vertreter des moderaten Lagers, die eine solche Konsenslösung vorziehen würden. Ob sie sich aber durchsetzen, ist schwer vorauszusehen – zumal die rechtsradikalen Kräfte in der Koalition damit drohen, im Fall eines Einlenkens gegenüber der Opposition die Regierung platzen zu lassen.