Berlin/Moskau. Russland erlebt die schwersten ukrainischen Drohnenangriffe seit Beginn des Krieges. Moskau droht – doch wie weit wird der Kreml gehen?

Die Ukraine verstärkt ihre Drohnenangriffe auf Ziele in Russland. Droht eine Ausweitung oder gar eine Eskalation des Krieges? Und darf die Regierung in Kiew das nach dem Völkerrecht überhaupt? Die Antworten auf die wichtigsten Fragen.

Was genau ist in der vergangenen Nacht passiert?

Russland hat in der Nacht zum Mittwoch die schwersten ukrainischen Drohnenattacken seit Beginn des Krieges erlebt. Vier militärische Transportflugzeuge vom Typ Il-76 seien in der nordwestrussischen Stadt Pskow nach einem Drohnenangriff auf einem Militärflugplatz beschädigt worden, teilten die örtlichen Notdienste mit. Zudem gab es Drohnenattacken auf Brjansk, Orlow, Kaluga, Rjasa sowie die Regionen Moskau und Sewastopol. Nach Angaben des russischen Verteidigungsministeriums wurden die Drohnen in den meisten Regionen abgeschossen.

Auch am Donnerstag meldete die russische Flugabwehr, eine Drohen auf dem Weg nach Moskau abgefangen zu haben. Bürgermeister Sergej Sobjanin teilte am Donnerstagmorgen mit, das unbemannte Flugobjekt sei zerstört worden. Es gebe nach ersten Erkenntnissen keine Verletzten oder Schäden. Russische Medien berichteten außerdem über Verzögerungen am Flughafen der Haupstadt. Die Region Brjansk nahe der Ukraine wehrte nach Angaben der Behörden am Mittwochabend ebenfalls Drohenangriffe ab.

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Grafik-Karte Nr. 106035, Hochformat 90 x 110 mm, "Verortung: Angriffe auf russische Ziele", Grafik: A. Brühl, Redaktion: D. Loesche © dpa | dpa-infografik GmbH

Russland führt seit 18 Monaten einen Angriffskrieg gegen die Ukraine und bombardiert dabei auch das Hinterland massiv. Seit Monaten klagen aber auch zunehmend russische Regionen über die steigende Anzahl von ukrainischen Drohnenattacken. Die Opferzahlen und die Schwere der Zerstörungen sind aber deutlich unter dem Niveau der russischen Angriffe. Lesen Sie dazu den Kommentar: Drohnenkrieg gegen Russland – ein zweischneidiges Schwert

Wie reagiert Russland auf die jüngsten Angriffe?

Die Antwort aus Moskau kam prompt. "Die Angriffe der Ukraine auf Einrichtungen auf russischem Gebiet werden nicht ungestraft bleiben", kündigte die Sprecherin des russischen Außenministeriums, Maria Sacharowa, an. Zudem warf sie dem Westen vor, bei den Angriffen mit Satelliten geholfen zu haben. Anders seien die Angriffe über eine solche Entfernung nicht möglich gewesen.

Seit wann attackiert Kiew Russland mit Drohnen?

Anfang Mai wurde eine Kleindrohne über dem Senatspalast im Moskauer Kreml abgeschossen. Die spektakulären Bilder gingen um die Welt. Die Hintergründe des vereitelten Drohnenangriffs sind ungeklärt. Moskau beschuldigte die Ukraine, Kiew wies dies zurück.

Mehr zum Thema: Kiews "Herr der Drohnen" – und seine Botschaften an Putin

Im Juli und August wurde ein Bürohochhaus im Businessviertel Moskwa City getroffen. Es ist kein militärisches Ziel im eigentlichen Sinn. Dort befinden sich Geschäfte, Restaurants, Immobilienagenturen, medizinisches Zentrum sowie Ministerial- und Behördengebäude. Im Sommer gab es auch Seedrohnen-Angriffe auf die Brücke von Kertsch, die das russische Festland mit der Krim verbindet. Über die Straße und die Eisenbahnlinie läuft ein wichtiger Teil des Nachschubs für die russischen Truppen auf der Krim.

Normalerweise kommentiert die ukrainische Seite derartige Attacken nicht. Kürzlich erklärte Präsident Wolodymyr Selenskyj allerdings: "Allmählich kehrt der Krieg auf das Territorium Russlands zurück." Bereits im Dezember des vergangenen Jahres flogen Düsendrohnen der ukrainischen Armee rund 600 Kilometer über russisches Territorium bis zum Militärflugplatz Engels im Gebiet Saratow. Nach offiziellen Angaben wurden bei den Angriffen drei Soldaten getötet und vier weitere verletzt.

Aus welcher Produktion stammen die Drohnen?

In den ersten Monaten des Krieges verfügte die Ukraine lediglich über Drohnen sowjetischer Bauart. Danach lieferte die Türkei Bayraktar-Drohnen an die Regierung in Kiew. Die Drohnen, mit denen die Ukraine in letzter Zeit russische Ziele attackierte, sind wohl aus ukrainischer Eigenproduktion. Zumindest deuten Trümmerteile abgeschossener Drohnen darauf hin.

Über der nordwestrussischen Stadt Pskow steigen Rauchschwaden auf. Nach russischen Angaben wurde ein Militärflughafen getroffen.
Über der nordwestrussischen Stadt Pskow steigen Rauchschwaden auf. Nach russischen Angaben wurde ein Militärflughafen getroffen. © dpa | Ostorozhno Novosti

"Die Ukraine hat eine neue Generation von Drohnen entwickelt, die von der russischen Flugabwehr nur schwer zu erkennen sind", sagte der Militärexperte Christian Mölling von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) unserer Redaktion. "Diese haben eine Reichweite circa 1000 Kilometern, verfügen aber über keine hohe Tragkraft. Gelingt es den Ukrainern jedoch, die Tragkraft zu steigern oder ganze Drohnenschwärme loszuschicken, bekommen sie damit ein zusätzliches militärisches Instrument."

Besteht die Gefahr einer Eskalation?

Ukrainische Drohnenangriffe werden von Russland regelmäßig mit schweren Luftschlägen auf Städte wie Kiew, Odessa oder Charkiw beantwortet. Zudem warnt Ex-Präsident Dmitri Medwedew immer wieder vor einer "nuklearen Apokalypse". Westliche Militärexperten halten dies für die gezielte Einschüchterung der Öffentlichkeit in Europa und Amerika, um die Waffenhilfe zu stoppen.

Ukraine-Krieg – Hintergründe und Erklärungen zum Konflikt

Darf die Ukraine Russland nach dem Völkerrecht attackieren?

In Artikel 51 der Charta der Vereinten Nationen heißt es: Das Recht eines Staates auf seine Selbstverteidigung werde durch nichts eingeschränkt, solange der UN-Sicherheitsrat keine anderslautenden Maßnahmen erlasse. In diesem Gremium sitzt mit Russland der Aggressor und mit China ein Staat, der die Aggression bisher nicht verurteilt. Da es also keine Anweisungen aus dem Sicherheitsrat gibt, ist die Ukraine in der Wahl ihrer Mittel frei, sich selbst zu verteidigen.

"Im Prinzip sind Angriffe der Ukraine auf russischem Gebiet legal", sagt Barry de Vries vom Leibniz-Institut Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung. Mit dem Kriegsbeginn durch Russland habe die Ukraine das Recht, Gewalt anzuwenden, um sich zu verteidigen. Sie sei dabei nicht an die eigenen Landesgrenzen gebunden. Es gebe allerdings zwei Einschränkungen: Verteidigungsangriffe der Ukraine dürften nicht unverhältnismäßig sein und müssten das humanitäre Völkerrecht achten. Zivile Einrichtungen dürfen nicht das Ziel sein.

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