Brüssel/Berlin. Nach Drohungen von Donald Trump diskutiert Deutschland über neue Atomwaffen. Die wichtigen Abschreckungs-Szenarien auf dem Prüfstand.

Deutschland diskutiert über eine neue Atombewaffnung - und alarmiert damit die Nato. Nach den Drohungen des früheren US-Präsidenten Donald Trump, der Zweifel am US-Beistand gegen einen russischen Angriff befeuerte, sagt FDP-Fraktionschef Christian Dürr unserer Redaktion: „Ich hielte es für richtig, dass wir gemeinsam mit unseren europäischen Partnern über neue Möglichkeiten der nuklearen Abschreckung nachdenken. Die französische Regierung hat uns in dieser Frage bereits vor Jahren die Hand gereicht.“ Zuvor hatte die SPD-Spitzenkandidatin für die Europawahl, Katarina Barley, die Verlässlichkeit des US-Atom-Schutzschirms bezweifelt und eine Debatte über europäische Atombomben anregt.

Auch EVP-Chef Manfred Weber (CSU) will für die EU eine nukleare Abschreckung ergänzend zur Nato, wie er kürzlich unserer Redaktion sagte. FDP-Chef Christian Lindner hat für eine verstärkte Kooperation Deutschlands mit Frankreich und Großbritannien bei Atomwaffen geworben. Die Nato-Spitze ist nervös, Generalsekretär Jens Stoltenberg widerspricht offen. Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) warnt ebenfalls vor einer „Eskalation in der Diskussion, die wir nicht brauchen.“ Doch worum geht es überhaupt, welche Möglichkeiten der Atomverteidigung gegen einen russischen Angriff gibt es? Die vier Szenarien - und wie gut sie uns schützen können:

Schutz vor Russland: So funktioniert der US-Atomschirm

Deutschland und große Teile Europas verlassen sich bisher auf die Bereitschaft der USA, zu ihrer Verteidigung notfalls auch Atomwaffen einzusetzen. Nur mit dieser Abschreckung ist das Risiko für einen möglichen Gegner unkalkulierbar groß, dass ein Einmarsch in ein Nato-Land zum alles vernichtenden Weltkrieg eskalieren könnte. Die Eskalation wäre nicht zwingend, die Nato-Strategie sieht eine flexible Reaktion vor – aber stets stünde die Drohung im Raum. Nach dem Ende des Kalten Krieges haben die USA zwar einen Großteil ihrer 7000 Atomwaffen aus Europa abgezogen, die Abschreckung durch ihre strategischen Langstreckenraketen blieb aber aufrechterhalten – in einem Gleichgewicht des Schreckens verfügen die USA über 5200 Atomsprengköpfe, Russland über 5900. Die USA lagern etwa 180 Atombomben vom Typ B-61 in Europa. Etwa 20 davon befinden sich in Deutschland, einsatzbereit in unterirdischen Bunkern des Bundeswehr-Fliegerhorstes Büchel in Rheinland-Pfalz, weitere Depots liegen in den Niederlanden, Belgien, Italien und der Türkei. Die Atomwaffen in Deutschland würden im Ernstfall von Tornado-Kampfjets der Bundeswehr ins Zielgebiet geflogen und abgeworfen.

Ein Tornado-Kampfjet der Bundeswehr rollt auf der Startbahn des Fliegerhorsts Büchel in der Eifel. Dort sind US-Atomwaffen stationiert, die im Ernstfall von deutschen Kampfjets eingesetzt werden sollen.
Ein Tornado-Kampfjet der Bundeswehr rollt auf der Startbahn des Fliegerhorsts Büchel in der Eifel. Dort sind US-Atomwaffen stationiert, die im Ernstfall von deutschen Kampfjets eingesetzt werden sollen. © DPA Images | Harald Tittel

Mit dieser „nuklearen Teilhabe“ sollen die Nato-Staaten ohne eigene Atom-Bewaffnung in die Zielplanung durch die Allianz einbezogen werden. Diese Waffen müssten Kern der nuklearen Abschreckung bleiben, sagte Stoltenberg in Brüssel, wohlwissend, dass der frühere US-Präsident Donald Trump daran gerade erst zwar Zweifel gesät hatte: Er werde Bündnispartnern mit geringen Verteidigungsausgaben im Fall eines russischen Angriffs keine Unterstützung gewähren, hatte Trump gewarnt. Allerdings nehmen ihm die Nato-Länder gerade Wind aus den Segeln: Erstmals seit Jahren halten Deutschland und die Mehrheit der Nato-Länder wieder die verabredete Quote bei den Verteidigungsausgaben ein, wie Stoltenberg vermeldete: In diesem Jahr geben 18 der 31 Verbündeten mindestens zwei Prozent ihres Bruttoinlandsprodukts (BIP) für Verteidigung aus, in Deutschland sind es 2,1 Prozent. Pistorius hatte die deutsche Zielerfüllung – 73 Milliarden Euro dank des Bundeswehr-Sondervermögens - bereits im Januar im Bundestag verkündet.

Die deutsche Atombombe: Darum raten Experten ab

Der Aufbau eines deutschen Atom-Arsenals gilt unter Fachleuten als kaum realistisch. Es wäre militärtechnisch ambitioniert, würde hohe Milliarden-Investitionen erfordern, unsere EU-Nachbarn irritieren und ist politisch kaum durchsetzbar. Die Bundesrepublik hat sich im Atomwaffen-Sperrvertrag zum Verzicht auf Atombomben verpflichtet, die Aufkündigung hätte weltweit Folgen. „Diese Option ist aus gutem Grund auf Dauer und völkerrechtlich bindend ausgeschlossen“, sagt der Sicherheitsexperte Karl-Heinz Kamp von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP). Eckhard Lübkemeier von der Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) meint: „Eine deutsche Bombe anzustreben hieße, einen Sprengsatz an die EU, die Nato und den nuklearen Nichtverbreitungsvretrag zu legen.“

Angst vor Putin: Kann Europa gemeinsame Atomwaffen bauen?

Eine große europäische Lösung, wie sie die SPD-Politikerin Barley ins Gespräch bringt, würde den Nichtverbreitungsvertrag ebenfalls tangieren, findet aber in der Debatte Unterstützung: Der Politikwissenschafter Herfried Münkler etwa fordert, die Europäer müssten sich zusammentun, eine gemeinsame Atommacht bilden – mit einem „gemeinsamen Koffer mit rotem Knopf, der zwischen großen EU-Ländern wandert.“ Problem: Einigkeit über die Atombewaffnung ist in der EU so schnell kaum herstellbar, über den Einsatz im Ernstfall schon gar nicht – umsetzbar wäre die Idee allenfalls mit einer europäischen Armee und einer zentralen Befehlsgewalt, also allenfalls in einigen Jahrzehnten. Oder nie. Sicherheitsexperte Kamp warnt: „Die wiederkehrende Mär einer gemeinsamen europäischen Nuklearstreitmacht im Rahmen der EU hat keinerlei Chance auf Realisierung.“ Gerade nach dem Ukraine-Krieg sei die Vorstellung eines sicherheitspolitisch autonomen Europas endgültig vom Tisch. Die nukleare Abschreckung liege eindeutig bei der NATO – und sie werde weiter vor allem von den USA bereitgestellt.

Der französische Präsident Emmanuel Macron (links) besichtigt  ein Atom-U-Boot in Cherbourg.
Der französische Präsident Emmanuel Macron (links) besichtigt ein Atom-U-Boot in Cherbourg. © AFP | Ludovic Marin

Atomwaffen von Frankreich und Großbritannien: Können sie uns schützen?

Hoffnungen richten sich jetzt auf die französische Atomstreitmacht mit ihrem relativ kleinen Arsenal von 300 Sprengköpfen. Den Kern bilden vier mit Raketen bestückte Atom-U-Boote, von denen eines immer auf dem Meer unterwegs ist, außerdem sind Rafaele-Kampfjets mit Atomraketen bestückbar. Die Bomben könnten zwar die Hürde für einen Angreifer erhöhen – sie reicht aber wohl nicht, um glaubhaft einen großen atomaren Schlagabtausch durchzustehen. Befürworter wie EVP-Chef Weber bringen ergänzend ein atomares Bündnis mit Großbritannien ins Spiel, das über 120 Atomraketen verfügt, die von vier U-Booten abgeschossen werden können. Allerdings gibt es überhaupt kein Signal, dass London nach dem Brexit für ein atomares Schutzbündnis mit der EU bereit stünde.

Frankreichs Präsident Emmanuel Macron dagegen hatte 2020 immerhin einen Dialog über die europäische Dimension der französischen Atombomben öffentlich angeboten. Die Offerte ist aber, wie Eingeweihte in der Bundesregierung erläutern, nie substanziell unterlegt worden. In Paris wird auch kein Zweifel daran gelassen, dass die Entscheidung über den Einsatz Frankreich vorbehalten bliebe; nicht einmal an der gemeinsamen Atom-Planung der Nato beteiligt sich Frankreich. Auch deshalb mahnen Experten zur Zurückhaltung. Politikwissenschaftler Münkler meint, ob Frankreich seine Bombe wirklich benutzen würde, um Litauen oder Polen zu schützen, sei aus Sicht des Kreml zu bezweifeln. Die Abschreckung, um die es geht, wäre am Ende gar keine.