Martin Debes versucht sich am Thema Rassismus

Wir alle irren, in unterschiedlicher Häufigkeit vielleicht und in unterschiedlichem Grad: Aber wir irren. Wir alle wissen wenig, selbst wenn wir uns für einigermaßen intelligent und gebildet halten sollten. Wir alle lernen ständig hinzu – jedenfalls dann, wenn wir das zulassen.

Denn dieses Lernen ist anstrengend und zuweilen schmerzhaft. Gerade in pandemischen Zeiten steht oft am Ende die unerquickliche Einsicht, dass alles kompliziert, ja verwirrend ist und nichts selbstverständlich.

Da ist zum Beispiel der Altenburger Oberbürgermeister André Neumann. Er ruft gerne das, was er gerade vor sich hingedacht hat, per Twitter in die Welt. Neulich, kurz nachdem in Minneapolis George Floyd von Polizisten getötet worden war und der Protest auch durchs Netz wallte, schrieb Neumann: „Die letzten Tage auf Twitter kann man sehr gut beobachten, wie Schwarze den Rassismus von Weißen gegenüber Schwarzen nutzen, um gegen Weiße rassistisch zu sein. Eine unnötige moralische Überhöhung. Schwarze sind keine besseren Menschen als Weiße. Wir sind alle gleich!“

Altenburgs Oberbürgermeister: Weiße nicht diskriminieren

Prompt durchlebte der Oberbürgermeister das, was man neudeutsch einen Shitstorm nennt. Er erhielt Hunderte, überwiegend negative Kommentare und auch Beschimpfungen. Einige behaupteten, dass Neumann genau das sei, was er anderen zu sein vorwerfe: ein Rassist. Die Mitgliedschaft des Politikers in der CDU machte für sie die Zuordnung noch einfacher. Denn diese Partei, die sich demokratisch nenne, sei ja doch nur eine verkappte AfD.

Wer sich nur ein bisschen näher mit Neumann beschäftigt hätte, der hätte mitbekommen können, dass der Mann am lautesten protestierte, als ein gewisser FDP-Politiker mit den Stimmen von CDU und AfD zum Ministerpräsidenten gewählt wurde. Aber das passte natürlich nichts ins Bild.

Jenseits dessen war das, was Neumann schrieb, eine alte Relativierungsübung. Theoretisch, das stimmt natürlich, kann jeder Mensch gegenüber jedem anderem Menschen rassistische Vorurteile hegen, ganz unabhängig von Hautfarbe oder Herkunft. Praktisch aber kommt es darauf an, wer von beiden strukturell benachteiligt ist – und wer nicht. Mit dem angeblichen Rassismus gegen Weiße verhält es sich daher wie mit dem Sexismus gegen Männer: Er hat kein System.

Alle sind gleich, sagte der Oberbürgermeister. Stimmt, so stand es ja schon in der Unabhängigkeitserklärung der USA. Doch leider wurde dieser großartige Text ausschließlich von weißen, oft reichen Männern unterzeichnet, von denen nicht wenige Sklaven hielten und im Übrigen der Meinung waren, dass Frauen weder Wahl- noch Entfaltungsrechte zustehen.

Selbst als nach dem Bürgerkrieg die Sklaverei abgeschafft war, herrschte in den Südstaaten bis in die 1960er-Jahre eine Art Apartheidsystem, in dem sich Strukturen und Stereotype verfestigten, die bis in die Gegenwart nachwirken.

Wer heute als Schwarzer in den USA lebt, kann Präsident werden, das ja. Aber im Durchschnitt lebt er nicht nur kürzer und schlechter als ein Weißer, sondern auch gefährlicher. Er muss nur durch ein weißes Wohnviertel joggen, um von Möchtegern-Sheriffs gejagt und erschossen zu werden. Oder er muss bloß Zigaretten mit einer womöglich fragwürdigen Banknote kaufen, um unter dem Knie eines Polizisten zu verenden. (Dass Schwarze in Kriminalitäts- und Gewaltstatistiken auch als Täter überproportional vertreten sind, spricht nicht gegen diesen Befund, sondern ist vielmehr ein Teil davon.)

Aber es geht, natürlich, nicht nur um die USA. Menschen, die in Deutschland nicht ganz so aussehen und reden wie die Mehrheit, bekommen schwerer eine Wohnung oder eine Arbeit. Sie werden öfter beschimpft oder geschlagen und manchmal, wenn sie in ihrem Blumenwagen stehen, um Sträuße zu binden, kommen zwei Eingeborene aus Jena vorbei und schießen ihnen in den Kopf.

Aber was weiß ich schon, als alternder weißer Mann, und das sage ich ausnahmsweise ohne kokette Pseudoironie. Ich kann viel über Rassismus nachdenken und ich kann dagegen protestieren. Aber erfahren habe ich ihn genauso wenig wie André Neumann, der inzwischen seinen Tweet als „dämlich“ bezeichnet und sich dafür entschuldigt hat.

Er habe sich geirrt, sagte der Oberbürgermeister, worauf einige jener, die ihn als Rassisten diffamiert hatten, sich ebenso korrigierten. Na, geht doch.