Erfurt. Einer Studie zufolge können bundesweit etwa sechs Millionen Menschen im erwerbsfähigen Alter nicht richtig lesen und schreiben.

Brille vergessen, Schrift zu klein, Hand gebrochen – die Ausreden sind immer die gleichen, wenn es darum geht, etwas zu lesen oder zu schreiben: Einer Hamburger Studie zufolge können bundesweit 6,2 Millionen Menschen im erwerbsfähigen Alter, also zwischen 18 und 64 Jahren, nicht richtig lesen und schreiben.

Diesen Zahlen zufolge wären in Thüringen etwa 140.000 Menschen davon betroffen. Da andere Altersgruppen nicht berücksichtigt wurden, sei die Zahl vermutlich noch höher, schätzt Ralf Häder vom Bundesverband Alphabetisierung und Grundbildung e.V.. „Man spricht von gering literalisierten Menschen oder von funktionalem Analphabetismus.“ Denn im Gegensatz zu Analphabeten in Entwicklungsländern könnten die hierzulande Betroffenen durchaus einzelne Buchstaben und kurze Wörter lesen, aber eben keine ganzen Sätze bilden und verstehen.

Gründe liegen auch im Schulsystem

Gründe dafür gibt es laut Häder mehrere: „Zum einen wird funktionaler Analphabetismus vererbt. Er tritt häufig in Familien auf, in denen nicht gelesen oder vorgelesen wird, in denen Bücher keine Rolle spielen. Oft haben Eltern andere Probleme oder Prioritäten, als sich um die Bildung ihrer Kinder zu kümmern.“

Aber auch das Schulsystem kommt bei Häder nicht gut weg: „Grundschullehrer werden häufig danach bewertet, wie viele gymnasiale Empfehlungen sie aussprechen und nicht danach, ob sie jedem Schüler, auch wenn er mehr Hilfe braucht als die anderen, lesen und schreiben beibringt.“

Zudem könne man in unserer Gesellschaft zwar mit schwachen Mathematik-Kenntnissen kokettieren, „das sieht man im Fernsehen ständig“, aber wenn jemand zugibt, nicht richtig lesen und schreiben zu können, werde die Nase gerümpft.

Und gerade bei Kindern werde aus einer Fremdzuschreibung wie „der ist zu dumm dafür“ schnell eine Selbstzuschreibung, die weitere Bemühungen zunichte macht. Erst bei der Beratung und weiteren Angeboten könne diese innere Abwehr überwunden werden.

Der Bundesverband bündelt die regionalen und lokalen Angebote, von denen es allein in Thüringen etwa 60 gibt. „Das ist schon toll, aber wenn man bedenkt, dass viele Betroffene aufgrund der Umstände keine Fahrerlaubnis und oft keine großen finanziellen Mittel für den Nahverkehr übrig haben, sind es viel zu wenig Angebote.“

In Gotha etwa hilft Julia Krebs im Mehrgenerationenhaus den betroffenen Menschen. „Ein allgemeiner Kurs wie in der Schule ergibt aber keinen Sinn, da kommt keiner.“ Sie unterstützt mit individuellen Angeboten, etwa, wenn es um die theoretische Führerscheinprüfung, einen Briefwechsel oder auch Kochrezepte geht. Wichtig sei, die jeweiligen Kontaktpersonen zu erreichen, die betroffenen Menschen selbst würden die Angebote ja kaum wahrnehmen. Daher ärgert sie die fehlende Koordination der vielen Möglichkeiten. „Jeder will helfen, kocht aber sein eigenes Süppchen. Dabei ist die Hilfe so wichtig.“

36-Jährige wagt einen Neubeginn

Auch für Silvana Büchner aus Meiningen. Die 36-Jährige mit drei quirligen Kindern wagt nach einer schwierigen Beziehung einen Neubeginn. Der ist nicht leicht, ist begleitet von Schulden und Prozessen. Sie hatte Verträge gutgläubig abgezeichnet, denn sie kann aufgrund vererbter Entwicklungsstörungen und geistigen Einschränkungen nicht richtig lesen und schreiben.

„In der ersten Klasse bin ich schon nicht mitgekommen.“ Sie und ihre große Tochter haben Pflegestufen, die Kinder sind entwicklungsgestört, lernen in Förderstätten. Silvana Büchner arbeitet in einer geschützten Werkstatt der Lebenshilfe. Vier Betreuerinnen kümmern sich um die Familie. Nun soll der Neustart gelingen. Doch das Geld ist knapp, die Wohnung leer. Über den Verband kinderreicher Familien e.V. hat „Thüringen hilft“ 2500 Euro für Möbel gestiftet, das Einrichtungshaus Ikea die Möbel kostenlos geliefert.

Im Alltag geht Büchner offensiv mit ihrer Einschränkung um, bittet Passanten um Hilfe – auch wenn sie dabei aus Unverständnis oft angepöbelt wird. Während der ersten Schwangerschaft besuchte sie neun Monate lang die Volkshochschule. Kurze Wörter und niedrige Zahlen kann sie schon.

Abgeschrieben hat sie sich nicht.

Thüringen hilft - so können auch Sie helfen: