Berlin. Bei den Bundesjugendspielen zählte bislang jede Sekunde, jeder Zentimeter. Damit ist jetzt Schluss. Unsere Kolumnistin ist entsetzt.

Auf Tiktok toben sich mittlerweile ziemlich viele Boomer aus. Und weil sie keine Lust mehr haben, Opfer der witzigen Gen-Z-Reels zu sein, schlagen sie nun zurück. Motto: Ich habe was, was du nicht hast. Und das ist: Mut, Kraft, Ausdauer. Die Reels gehen zum Beispiel so: Die Kids der 1970-er Jahre hängen sich auf dem Spielplatz an die Reckstange, schaukeln ein paarmal, dann ziehen sie mit der Kraft ihrer Arme die Füße in die Luft, drehen den Unterkörper um die Stange und stemmen sich auf. Nennt man Aufschwung.

Die 90-er Kids scheitern an der Schwerkraft, die ist stärker als ihre Armmuskulatur, aber immerhin versuchen sie es. Und die Gen Z? Die positioniert sich mit aufgerissenem Mund neben der Stange und macht ein Selfie.

Scheibt über Frauen, Familie und Gesellschaft: Kolumnistin Birgitta Stauber / Funke Zentralredaktion am 2. Juni 2021. Foto: Reto Klar / Funke Foto Services
Scheibt über Frauen, Familie und Gesellschaft: Kolumnistin Birgitta Stauber / Funke Zentralredaktion am 2. Juni 2021. Foto: Reto Klar / Funke Foto Services © FUNKE Foto Services | Reto Klar

Ich find es total lustig, die Gen-Z-Tochter weniger. Doch dann leihen wir uns ein SUP-Board (Stand-Up-Paddling) aus. Ich übe, balanciere, falle ins Wasser, ziehe mich wieder hoch, habe dann alles im Griff und paddle mit dem Einsatz meines gesamten Körpers über den See. Die Tochter macht ein paar Paddelbewegungen im Stehen nach dem Motto: Ach so geht das. Dann legt sie sich den Rest der Stunde aufs Board und sonnt sich. „Chill mal“, sagt sie.

Wir Boomer lebten permanent im Wettkampf

Ist nicht so einfach. Wir Boomer hatten schließlich eine harte Kindheit: Immer draußen, immer unbeaufsichtigt, immer im Wettkampf. Ich war schlecht im Turnen, aber weil ich mithalten wollte, übte ich so lange, bis ich den Aufschwung beherrschte. Immerhin schaffte ich bei den Bundesjugendspielen regelmäßig eine Siegerurkunde. Meine Freundin Christine war schneller, sprang weiter, hatte den Dreh raus beim Weitwurf. Ich gönnte ihr die Ehrenurkunde.

Tatsächlich halte ich die Bundesjugendspiele für eine wunderbare Einrichtung. Alle machen mit, und wer richtig gut ist, bekommt eine Urkunde. Eine echte Urkunde, die die individuelle Leistung belohnt. Die Ausdauer, die Kraft – und auch den persönlichen Einsatz. Ich kenne Leute, die wissen noch nach 40 Jahren, wie viele Punkte sie hatten.

Und nun dies: Die Bundesjugendspiele werden reformiert. Sieger- und Ehrenurkunden soll es für Grundschüler nicht mehr geben, stattdessen werden Punkte gezählt, die die Kinder in ihrem Jahrgang für ihre Schule erreichen. Es geht auch nicht mehr um Sekunden und Zentimeter, sondern um Zeit- und Entfernungszonen. Das Ganze nennt sich dann nicht mehr Wettkampf, sondern Wettbewerb. Eine Urkunde bekommen dann aber alle. Für die Teilnahme.

Die Bundesjugendspiele lassen die schlechte Mathenote auch mal vergessen

Ganz klar: Die Bundesjugendspiele werden weichgespült. Dann kann Oskar, der beim Weitsprung über die zwei Meter nicht hinauskommt, mit den Schultern zucken, solange Marie, die zuverlässig alle Zeit- und Entfernungszonen sprengt, genug Punkte für die Schule holt. Oskar, der ansonsten Klassenbester ist, bleibt nun erspart, auch mal geerdet zu werden. Und Marie, die sich so schwer tut mit Rechtschreibung, den Englisch-Vokabeln und dem Einmaleins, verliert einen wichtigen Triumph. So viel zum Thema Gerechtigkeit.

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Abgesehen davon: Kinder haben so viel Lust am Wettkampf. Wer ist schneller, wer weiß mehr, wer schießt die meisten Tore? Schwimmbad ohne Wettschwimmen? Den coolsten Sprung ins Wasser? Langweilig. Und wenn was langweilig ist, dann gibt es keinen Fortschritt.

Liebe Eltern, alles könnt ihr euren Kids nicht ersparen

Die besten Ergebnisse entstehen durch harten Wettkampf, sorry, ihr besorgten Mütter und Väter. Das gilt übrigens nicht nur für den Sport, sondern auch für Musik, Kunst, Wissenschaft. Oder wollen wir jetzt auch Jugend forscht abschaffen oder Jugend musiziert – weil es so hart ist, in Konkurrenz mit den Besten zu sein? Uns und unsere Kinder einrichten in einer wabernden Mittelmäßigkeit aus lauter Angst vor Enttäuschung?

Einer Mittelmäßigkeit übrigens, in der es für alles und nichts Urkunden gibt, ob Kinderyoga (ist echt in, soll alles spielerisch sein, zu den Asanas, also den Figuren, wird gesungen), Sponsorenlauf, Kochkurs oder was weiß ich. Vielleicht gibt es ja auch bald ein Sammelalbum dafür, so eine Art Urkunden-Panini.

Zurück zum Tiktok-Reel. Ergänzen wir es mit der Generation Alpha, die nach der Gen Z gerade heranwächst. Sie wedelt, neben dem Reck stehend, mit dem erworbenen Diplom. Für die Teilnahme am gemeinschaftlichen Spielplatzbesuch.

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