London. Warum verlief die dritte Corona-Welle in Großbritannien eher schwach? Experten vermuten sogar, dass das Land es bald geschafft hat.

  • Warum blieb die groß angekündigte dritte Welle in Großbritannien aus? Experten geben ihre Einschätzung
  • Positive Faktoren: Das Impfprogramm verläuft besser als in Deutschland
  • Doch sicher können sich die Briten nicht sein, die Sommerferien sind noch nicht zu Ende

War es das schon? Vor knapp zwei Wochen, als England alle Corona-Einschränkungen über Bord warf und groß seinen "Freedom-Day" feierte, hatten Epidemie-Expertinnen und -Experten vor einer riesigen dritten Corona-Welle gewarnt, die über Großbritannien hereinbrechen würde. Es war die Rede von bis zu 150.000 Neuinfektionen pro Tag und einer Überlastung der Krankenhäuser.

Aber heute schauen die Epidemiologen auf die Zahlen und wundern sich: Die Zahl der Ansteckungen scheint sich bei rund 30.000 pro Tag eingependelt zu haben. Das ist zwar im europäischen Vergleich noch immer sehr hoch, aber von einem exponentiellen Wachstum der Pandemie kann keine Rede sein.

Großbritannien: Ist der Höhepunkt der Corona-Welle vorbei?

Am Freitag publizierte die nationale Statistikbehörde ONS Zahlen, laut denen die Pandemie in England, Wales und Schottland in der Woche bis zum 31. Juli abgeflacht ist: von rund 850.000 Infizierten in den sieben Tagen zuvor auf etwas über 720.000. Auch die Zahl der Patientinnen und Patienten, die mit Covid-19 ins Krankenhaus eingeliefert werden, geht langsam wieder zurück.

„Nachdem die Infektionen aufgrund der Delta-Variante einige Wochen lang zugenommen hatten, ist es erfreulich, dass sie jetzt in England, Wales und Schottland gefallen sind“, sagte Sarah Crofts vom ONS. Sie fügte jedoch hinzu, dass es noch immer zu früh sei, um mit Sicherheit zu sagen, dass der Höhepunkt dieser Welle vorbei sei.

Seit dem Ende der Corona-Beschränkungen in Großbritannien wird gefeiert, wie hier in einem Club in Brighton.
Seit dem Ende der Corona-Beschränkungen in Großbritannien wird gefeiert, wie hier in einem Club in Brighton. © Getty Images | Chris Eades

Britisches Impfprogramm bisher erfolgreicher als deutsches

Offensichtlich ist hingegen, dass das Land weit entfernt ist von den bedrohlichen Szenarien, die Expertinnen und Experten prognostiziert hatten. „Es sieht so aus, als ob sich die Fallzahlen stabilisiert haben, und man kann hoffen, dass sie im Lauf des Sommers etwas fallen werden“, sagte Professor James Naismith vom Rosalind Franklin Institute in Oxford.

Wissenschaftler haben verschiedene Faktoren ausgemacht, denen die Entspannung zu verdanken sein könnte. Am wichtigsten ist das Impfprogramm. Über 70 Prozent der britischen Gesamtbevölkerung haben die erste Dosis erhalten, fast 60 Prozent sind vollständig geimpft; unter den Erwachsenen ist der Schutz besonders hoch: Rund 74 Prozent sind mit beiden Impfdosen versorgt worden. Untersuchungen haben ergeben, dass etwa 90 Prozent der erwachsenen Britinnen und Briten in ihrem Immunsystem Covid-19-Antikörper aufweisen.

Wissenschaftler: Pandemie könnte in Großbritannien im Oktober vorbei sein

„Das Impfprogramm hat die Gleichung fundamental verändert“, sagte Professor Neil Ferguson vom Imperial College London vergangene Woche. Die Immunisierungskampa­gne habe das Risiko von Hospitalisierung und Tod signifikant reduziert, und er könne sich sogar vorstellen – im Gegensatz zu einigen seiner Kolleginnen und Kollegen –, dass die Pandemie bis Oktober mehr oder weniger vorüber sein könnte. Auch andere Wissenschaftler gehen davon aus, dass sich Großbritannien langsam einer Art Herdenimmunität annähert.

Ein zweiter Grund für den Rückgang der Pandemie sind die Schulferien, die Ende Juli begonnen haben. Die Delta-Welle war besonders unter Teenagern zu spüren, und unzählige Schulen meldeten im Juni und Juli kleinere oder größere Corona-Ausbrüche. Jetzt, wo die Schulbänke leer sind, ist ein Test- und Übertragungsort weggefallen.

Nach dem Sommer könnten die Fallzahlen noch mal steigen

Auch das Ende der Fußball-Europameisterschaft kann zum Rückgang beigetragen haben. Während der vier Wochen des Turniers, vom 11. Juni bis zum 11. Juli, saßen die Engländer, deren Team es bis ins Finale schaffte, in rappelvollen Pubs, und Zehntausende gingen zu den Spielen ins Wembley-Stadion. Studien legen nahe, dass dies Mitte Juli zum starken Anstieg der Ansteckungsrate vor allem unter männlichen Briten führte. Ohne das Gedränge der Fans breitet sich das Virus in den Pubs offenbar weit weniger schnell aus.

Wenn das die Hauptursachen für die Entspannung sind, dann ist das Land noch nicht aus dem Schneider, meinen einige Epidemiologen. Denn irgendwann ist der Sommer vorbei, die Menschen werden sich wieder verstärkt in der Wärme ihrer Häuser treffen.

Auch die Klassenzimmer werden im September wieder voll sein. „Wir haben innerhalb der Bevölkerung noch immer hohe Infektionszahlen“, sagte Naismith im Gespräch mit dem „Guardian“. Das bedeute, dass sich die Pandemie im kommenden Monat nicht signifikant verringern werde. „Unter diesen Umständen wird das Virus eine gute Plattform haben, um ungeschützte Menschen zu infizieren.“