Berlin. Baerbock stellt ihr Buch vor. Sie erzählt von Treffen mit Jesidinnen im Irak und warum ihr das Trampolin auch in der Politik hilft.

Annalena Baerbock sitzt ein paar Hundert Meter vom Kanzleramt entfernt. Draußen, unter einem Pavillon am Haus der Kulturen in Berlin. Vor ihr sitzen gut 50 Zuschauende und Journalisten, Kameras und Fotografen. Hinter dem Podium, auf dem Baerbock sitzt, steht ein großes Pappschild. Es zeigt ihr Porträt, es ist das Cover ihres neuen Buches. Manchmal wackelt das Pappschild, droht zu kippen, wenn eine Windböe durch den Pavillon stößt.

Im September will Annalena Baerbock noch ein Stück weiter, in den sandfarbenen Bau, das Kanzleramt. Die 40-Jährige ist Kanzlerkandidatin der Grünen. Es sah schon mal besser für sie aus.

Seit einigen Wochen richtet sich der Fokus auf Baerbock. Das parteiinterne Rennen gegen Robert Habeck hat sie gewonnen, einige Magazine feierten ihre Kandidatur. „Endlich anders“, titelte der Stern.

Seit der Debatte über ihren Lebenslauf wächst der Gegenwind

Doch auch der Gegenwind wächst seit Wochen, die Union schießt sich auf Baerbock ein. Und sie selbst hat Fehler gemacht, musste ihren Lebenslauf korrigieren, hatte zu dick aufgetragen. In den aktuellen Umfragen will die Mehrheit der Deutschen sie nun nicht mehr als Kanzlerin. Die Grünen liegen wieder hinter der Union – ohne das CDU-Chef Laschet viel dafür tun musste.

Fühlt sich mit 40 Jahren zu jung, um eine Autobiografie zu schreiben. Deshalb sei es auch ein politisches Buch, sagt Baerbock.
Fühlt sich mit 40 Jahren zu jung, um eine Autobiografie zu schreiben. Deshalb sei es auch ein politisches Buch, sagt Baerbock. © dpa | Christoph Soeder

Annalena Baerbock wirkt an diesem heißen Juni-Tag ruhig, nicht angegriffen. Die Grünen-Politikern findet schnell in den Redefluss, in den Wahlkampf-Modus. Sie ist konzentriert und freundlich zugleich. Auch weil die Moderatorin keine kritischen Fragen stellt. Es ist ein Heimspiel für Baerbock, eine Werberunde für ihr Buch.

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„Jetzt“, heißt es. Untertitel: „Wie wir unser Land erneuern“ (Ullstein Verlag). Es ist ein politisches Programm, Baerbock schreibt über Außenpolitik, über Klimawandel, über Schule und innere Sicherheit. Es ist aber auch ein Buch über Baerbocks Leben.

Oftmals verbindet sie beides, ihr Leben, ihre Erlebnisse – und ihre Agenda. So wie das Kapital über ihre Reise in den Irak. Baerbock besucht in den kurdischen Gebieten Jesidinnen, Frauen, die vor den Terroristen des selbsternannten „Islamischen Staates“ geflohen waren. Frauen, deren Kinder geraubt und sie selbst vergewaltigt wurden.

Bei einem Treffen mit jungen Jesidinnen kommen Baerbock die Tränen

Baerbock schreibt über ihre Erfahrung in dem Flüchtlingscamp: „Eine der Frauen zeigte mir auf dem gesplitterten Display ihres Handys Bilder ihrer beiden Töchter, die eine neun Jahre alt, die andere fast drei. Beide vollverschleiert. Sie befanden sich immer noch in der Gewalt ihres Peinigers.“

Der Terrorist habe sich eine neue Frau „genommen“ und die Mutter mit dem Sohn fortgeschickt, berichtet Baerbock. „Ich schluckte, versuchte, die Tränen zu unterdrücken, wollte aber dem Blick der Frau nicht ausweichen. Ihre Freundin legte ihr den Arm um die Schultern. Mir rannen Tränen über die Wangen. Beim Schreiben tun sie das noch heute.“

Eine andere Anekdote, ein anderes Jahr. Diesmal Deutschland, ein Besuch in einer Stadtteilschule. Baerbock liest Fünftklässlern vor. „Nach dem Lesen sprachen wir da rüber, was es noch für andere Bücher gibt und was so ihre Lieblingsbücher seien. Fast die Hälfte der Klasse nannte ein und dieselbe Geschichte, worüber ich mich etwas wunderte“, schreibt die Grünen-Politikerin. „Am Ende der Stunde fragte ich, wer das Buch denn zum Weiterlesen mit nach Hause nehmen wolle. Es entbrannte ein halber Streit.“

Annalena Baerbock, Kanzlerkandidatin, im Gespräch mit Journalistinnen und Journalisten in Berlin.
Annalena Baerbock, Kanzlerkandidatin, im Gespräch mit Journalistinnen und Journalisten in Berlin. © dpa | Christoph Soeder

Die Lehrerin habe Baerbock später erklärt, dass die wenigsten Kinder eigene Bücher zu Hause hätten. Deswegen hätten auch so viele dieselbe Geschichte genannt, weil sie die gerade gemeinsam im Unterricht lesen würden. „Ich nahm dieses mulmige Gefühl mit, wie es sein kann, dass wir dieser Freude am Lesen, Zuhören, Fantasieren bei so vielen Kindern nicht gerecht werden (wollen)“, schreibt Baerbock.

Baerbock: Zugezogen aus Brandenburg, aufgewachsen auf dem Land bei Hannover

Zugezogen aus Brandenburg, aufgewachsen auf dem Land bei Hannover, studierte Baerbock in Hamburg und London. Sie machte Karriere bei den Grünen, erst im Büro einer Europa-Abgeordneten, später im Bundestag. Sie wurde Vorsitzende. Jetzt ist sie Kanzlerkandidatin.

Das Buch hat sie zu großen Teil schon geschrieben, als sie noch nicht Kandidatin der Grünen war. Auch die Debatte über ihren geschönten Lebenslauf kam später. Im Buch schreibt sie wenig, nur sehr allgemein, über ihre Stationen in ihrem bisherigen Leben. „Ich studierte Politik und im Nebenfach öffentliches Recht in Hamburg und wechselte später an die London School of Economics and Political Science (LSE), um mich auf Europa- und Völkerrecht zu spezialisieren.“

Bei der Buchvorstellung sagt Baerbock, sie wolle Politik „von den Menschen her denken“. Das ist ein beliebter Spruch bei Menschen mit Macht. Weil es immer auch darum geht, nicht den Kontakt „zu den Leuten“ zu verlieren. Nicht abzuheben.

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16-Stunden-Tag in der Politik – und ein Ehemann, der zuhause die Kinder betreut

Baerbock erzählt auch Persönliches in dem Buch. „Meine Kinder wissen, wo mein Herz und mein Zuhause sind. Ohne Frage, weil mein Mann vieles zu Hause managt und seine Arbeitszeit reduziert hat. Zum Glück springen auch meine Eltern immer wieder ein.“ So kriege sie „trotz 16-Stunden-Politik-Tag live und in Farbe mit, dass in der gerade sanierten Schule kein Internetanschluss liegt und daher digitaler Unterricht kaum möglich ist“. Wieder eine Anekdote. Wieder steht sie auch für Baerbocks politischen Blick.

Lange geht es in dem Gespräch mit der Moderatorin über die Außenpolitik. Baerbock erzählt von China, der Unterdrückung der Uiguren. Sie redet von den Folgen des Klimawandels am Tschadsee. Sie hätte, sagt sie, einen härteren Kurs gegenüber Russland und ein Ende des Gaspipeline Northstream eingeschlagen, wäre sie schon Kanzlerin.

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Ein Trampolin im Garten hilft beim Stressabbau

In den anderthalb Stunden bleiben die politischen Forderungen sehr allgemein, es geht viel um ihre Haltung – auch als junge Kanzlerin. „Viele kämpfe sind von anderen Frauen schon erkämpft worden. Aber manche Kämpfe bleiben, das hat die Corona-Pandemie gezeigt.“ Zum Beispiel das Arbeiten im Homeoffice, wo weibliche Führungskräfte auf einmal in den Videokonferenzen fehlen würden, weil auch Kinderbetreuung ohne Kita organisiert werden müsse, sagt Baerbock.

Sie habe gewusst, dass der Gegenwind zunehmen werde, sobald sie ihre Kanzlerkandidatur erklärt. Sie ahnte, dass Tiefschläge kommen würden. Dass „jeder Stein umgedreht“ würde. Die Moderatorin fragt, was sie als frühere Leistungssportlerin und Trampolin-Springerin für die Politik gelernt habe.

Annalena Baerbock sagt, dass sie dem Teamgeist mitgenommen habe. Und dass sie gelernt habe, nach Rückschlägen weiterzumachen. Nicht zu hadern. „Das ist beim Trampolin richtig hart, wenn man da auf die Ecke springt“, erzählt sie. „Dann sage ich: abgehakt, beim nächsten Mal wird’s besser.“ Noch heute steht ein Trampolin in ihrem Garten in Potsdam.