London. Der frühere Menschenrechtsanwalt Keir Starmer ist der neue Chef der britischen Labour Party. Kommt es jetzt zu einer großen Koalition?

Er ist 57 Jahre alt, stets akkurat gescheitelt und ein Brexit-Gegner. Keir Starmer, der neue Chef der britischen Labour Party, zieht einen Strich unter den altlinken Klassenkämpfer-Kurs seines Vorgängers Jeremy Corbyn.

Dieser hatte bei der Parlamentswahl im Dezember mit seiner unklaren Position beim Brexit seiner Partei das schlechteste Ergebnis seit 1935 beschert.

Starmer, der eine Befragung der Labour-Mitglieder für sich entschied, ist damit Oppositionsführer und Herausforderer des konservativen Premierministers Boris Johnson. Er gilt als rhetorisch begabt und ist mit seinem messerscharfen Verstand und Blick fürs Detail dem Selbstdarsteller Johnson fraglos überlegen.

Keir Starmer ist entschiedener Gegner der konservativen Sparpolitik

Der frühere Menschenrechtsanwalt in London hat sich einen Ruf als von seinem Gewissen geleiteter Jurist erarbeitet. Er selbst hob in seinem Wahl-Manifest hervor: „Ich habe mein ganzes Leben damit verbracht, gegen Ungerechtigkeit zu kämpfen und den Mächtigen die Stirn zu bieten.“

In seiner ersten Ansprache als neuer Labour-Chef entschuldigte sich Starmer für den Antisemitismus in seiner Partei. .„Antisemitismus ist ein Schandfleck auf unserer Partei“, sagte Starmer im britischen Fernsehen. Er wolle „dieses Gift von den Wurzeln her ausrotten“.

Seinem Vorgänger Jeremy Corbyn hatten Kritiker immer wieder vorgeworfen, antisemitische Tendenzen in der Partei zumindest zu dulden, wenn nicht gar zu fördern. Indem Starmer sich nun dafür entschuldigte, vollzog er einen klaren Bruch mit seinem Vorgänger.

Als Anwalt vertrat Starmer Gewerkschaften gegen die konservative Thatcher-Regierung, Aktivisten gegen Großkonzerne und zum Tod verurteilte Gefangene in der Karibik gegen die Staatsgewalt.

2008 wechselte Starmer allerdings auf die Seite der Macht und wurde Chef der britischen Staatsanwaltschaft. In dieser Position musste er umstrittene juristische Entscheidungen treffen, doch besonders prägend für ihn war laut eigener Aussage die Sparpolitik der konservativen Regierung.

Starmer drängte auf eine zweite Brexit-Volksabstimmung

Nach seiner Amtszeit zog Starmer 2015 ins Parlament ein und wurde von Corbyn zum innenpolitischen Sprecher von Labour ernannt – ein Amt, von dem er sich im folgenden Jahr aus Protest gegen Corbyns Führungsstil zurückzog, nur um einige Monate später als Brexit-Sprecher wieder in die vorderste Reihe zurückzukehren.

Er war ein entschiedener Verfechter einer zweiten Brexit-Volksabstimmung – jene Forderung, mit der die Parteiführung die gespaltenen Lager einen wollte. Dies kam aber schlecht bei traditionellen Labour-Wählern im Norden Englands an und trug mit zum Wahldesaster bei.

Starmer muss die Partei nun neu ausrichten: Er wird sich hüten, allzu laut nach einer Verlängerung der Brexit-Übergangsphase zu rufen. „Der Streit um den Verbleib oder den Austritt ist vorbei“, sagte er bei einer Podiumsdebatte mit seinen Konkurrentinnen im Februar.

Johnson hält bislang eisern daran fest, die Loslösung von der EU bis zum Ende des Jahres abzuschließen. Doch daran glaubt angesichts der massiven Veränderungen durch die Coronavirus-Pandemie kaum noch jemand. Ein Scheitern der Verhandlungen, die derzeit gar nicht stattfinden können, würde der durch den Lockdown ohnehin geschwächten Wirtschaft einen zusätzlichen Schlag versetzen.

Labour-Chef hielt sich in den vergangenen Wochen mit Kritik zurück

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    Der Oppositionsführer war in den vergangenen Wochen auffällig unauffällig. Dabei bietet die Regierung viel Angriffsfläche bei ihrem Umgang mit der Coronavirus-Pandemie: Erst zögerlich führte sie Maßnahmen zur Eindämmung des Virus ein.

    Auch die geplante Erhöhung der Zahl der Tests, Beschaffung von Beatmungsgeräten und Schutzkleidung für Krankenhausmitarbeiter lief nur schleppend an. Britische Ärzte erklärten, sie fühlten sich wie „Kanonenfutter“.

    Starmer scheint zu ahnen: Im Moment ist nicht viel zu gewinnen mit Regierungskritik, die sich in Krisenzeiten mit dem Vorwurf des Politikergezänks allzu schnell als Bumerang erweisen könnte. Der neue Labour-Chef dürfte darauf setzen, dass sich die Regierung mit ihrem chaotischen Krisenmanagement selbst entlarvt und sich Johnsons Kurs der Verharmlosung rächt.

    Britische Medien spekulieren: Gibt es jetzt eine große Koalition?

    Aber vielleicht kommt es auch ganz anders. Innerhalb der Labour-Partei gibt es nach britischen Medienberichten bereits eine Debatte, ob Starmer angesichts der Coronakrise in eine Einheitsregierung mit den Konservativen eintreten sollte – also in eine große Koalition.

    Der Gedanke dahinter: Im Zweiten Weltkrieg nahm der damalige Labour-Chef Clement Attlee das Angebot von Winston Churchill an und wurde Mitglied einer Notregierung. Anschließend wurde er selbst Premier. Der Haken an der Sache: Bislang hat Johnson ein solches Angebot nicht unterbreitet. Noch nicht.