Hamburg. Verdi-Chef Bsirske sieht kriminelle Machenschaften beim Paketversand: „Da werden Stundenlöhne von 4,50 Euro oder sechs Euro gezahlt“.

Das prächtige Hamburger Rathaus verfügt über 647 Zimmer und atmet selbst in den kleinsten Besprechungszimmern merkantilen Geist. Frank Bsirske ist nach Hamburg gekommen, um hier Betriebsräte und Gewerkschafter zu treffen. Davor nimmt sich der Verdi-Vorsitzende Zeit für ein Gespräch über Mindestlöhne und Maximalvergütungen, über Gerechtigkeit und die SPD.

Herr Bsirske, die Bundesregierung will illegale Beschäftigung und Sozialmissbrauch stärker kontrollieren. Wie groß ist das Problem?

Verdi-Chef Frank Bsirske während des Interviews im Hamburger Rathaus.
Verdi-Chef Frank Bsirske während des Interviews im Hamburger Rathaus. © Roland Magunia/Hamburger Abendblatt | Roland Magunia/Hamburger Abendblatt

Frank Bsirske:Das Problem mit illegaler Beschäftigung ist sehr groß. In der Paketzustellbranche haben sich zum Teil mafiöse Strukturen etabliert. Unternehmen wie Hermes engagieren Firmen, die wiederum andere Firmen beauftragen, die dann Menschen aus der Ukraine, aus Moldawien oder aus Weißrussland in die Lieferfahrzeuge setzen. Viele haben gefälschte Pässe. Da werden Stundenlöhne von 4,50 Euro oder sechs Euro gezahlt und das bei Arbeitszeiten von zwölf oder sogar 16 Stunden pro Tag. Das Problem wird größer, je mehr die Branche der Paketzusteller boomt.

Was hilft dagegen?

Bsirske:Die Politik muss auch in der Paketbranche die sogenannte Nachunternehmerhaftung einführen. Das bedeutet, dass der eigentliche Auftraggeber für die korrekten Arbeitsbedingungen bei allen Subunternehmern verantwortlich ist. Das gibt es bisher nur in der Bau- und in der Fleischbranche.

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    Der Staat könnte noch mehr tun, um den gesetzlichen Mindestlohn durchzusetzen?

    Bsirske: Auf jeden Fall. Der Mindestlohn wird millionenfach noch immer nicht eingehalten. Wir brauchen zusätzliche und viel intensivere Kontrollen. Es ist richtig,

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    In Großbritannien gibt es die Möglichkeit, Verstöße gegen den gesetzlichen Mindestlohn telefonisch bei einer Hotline zu melden. Vor allem kleine Unternehmen machen davon Gebrauch, um sich gegen unlautere Geschäftspraktiken der Konkurrenz zu wehren. Ich finde das gut. Wir sollten eine Mindestlohn-Hotline auch in Deutschland einführen.

    Aktuell liegt der Mindestlohn bei 9,19 Euro. Die SPD will ihn auf zwölf Euro anheben und dafür die unabhängige Mindestlohnkommission entmachten. Wo bleibt Ihr Protest?

    Bsirske:Man muss das differenziert sehen. Erstens: Es ist gut, dass sich die Steigerung des Mindestlohns bisher an der Entwicklung der Tariflöhne orientiert hat. Man muss aber auch sehen: Die 8,50 Euro pro Stunde, mit denen der gesetzliche Mindestlohn 2015 eingeführt wurde, spiegelten den Stand von 2010 wider, als wir erstmals 8,50 Euro gefordert hatten. Es ist daher richtig,

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    Zwölf Euro pro Stunde sind eine gute Höhe. Danach sollte der gesetzliche Mindestlohn wieder der Tariflohnentwicklung des Vorjahres folgen.

    Viele Arbeitnehmer, die Tariflöhne von weniger als zwölf Euro pro Stunde haben, würden sich dann die Augen reiben. Ist das kein Problem?

    Bsirske:Der gesetzliche Mindestlohn schafft eine Grenze nach unten. Er liegt aktuell bei 9,19 Euro. Verdi vereinbart schon jetzt keine Tariflöhne mehr unter 9,50 Euro. Wenn der Mindestlohn bei zwölf Euro pro Stunde läge, müssten etwa 23 Prozent der von Verdi vereinbarten Tariflöhne angehoben werden. Das ist machbar, wenn der gesetzliche Mindestlohns in zwei Schritten auf zwölf Euro pro Stunde steigt. Das kann die Wirtschaft dann gut verkraften.

    Hintergrund:

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    Von den Mindest- zu den Maxi-Löhnen. Die Hans-Böckler-Stiftung hat herausgefunden, dass der Chef der Deutschen Post das 232-Fache des durchschnittlichen Gehalts seiner Mitarbeiter verdient. Brauchen wir in Deutschland Gehaltsobergrenzen?

    Bsirske:Es ist sinnvoll, im Verhältnis von Tariflöhnen zu Vorstandsbezügen über eine Höchstgrenze nachzudenken. Im Aufsichtsrat von RWE haben wir in den letzten Jahren zweimal die Bezüge des Vorstandsvorsitzenden reduziert. Bei der Deutschen Bank gibt es einen Deckel für die Vorstandsbezüge; dort darf niemand mehr als zehn Millionen Euro pro Jahr verdienen. In den Aufsichtsräten, in denen ich sitze, wird die Spanne zwischen Tariflöhnen und Vorstandsbezügen jedes Jahr beobachtet. Wir können eingreifen, wenn das aus dem Ruder läuft.

    Müssen die Arbeitnehmervertreter in den Aufsichtsräten nicht kritischer werden? Das Gehalt des Postchefs ist ja von Verdi-Vertretern im Aufsichtsrat durchgewinkt worden.

    Bsirske:Man muss sich anschauen, welche Konsequenzen man aus einer derart großen Spannbreite wie bei der Post zieht. In den 80er-Jahren waren wir bei einem Gehaltsverhältnis von 1:14. Jetzt sind wir bei 1:50 oder mehr. Das ist eine Entwicklung, der man nicht einfach weiter zuschauen kann.

    Muss der Staat gegen diese Entwicklung etwas tun?

    Bsirske: Zunächst ist das Sache der Aufsichtsräte. Wenn die Entwicklung ungebremst weiterginge, müsste die Politik eingreifen. So weit ist es noch nicht. Die Sensibilität für solche Entwicklungen ist seit der Finanzmarktkrise größer geworden. Wer über die zunehmende Ungerechtigkeit in unserer Gesellschaft enttäuscht ist, der darf über die Steuerpolitik nicht schweigen. Wir müssen die Reichen stärker besteuern!

    Der amtierende Bundesfinanzminister ist Sozialdemokrat ...

    Bsirske: Ich begrüße sehr, dass die SPD ihr sozialpolitisches Profi schärft. Sie wird auch zur Steuerpolitik nicht länger schweigen können. Deutschland ist eine Steueroase geworden. Die Erbschaftsteuer ist in Großbritannien viermal so hoch wie in Deutschland und in Frankreich fünfmal so hoch. Ob es um Infrastruktur, um Krankenhäuser oder den Wohnungsbau geht – das Geld wird dringend gebraucht.

    Ein Teil des neuen sozialpolitischen Profils der SPD ist die Grundrente: Jeder, der 35 Jahre lang in die Rente eingezahlt hat, soll sie bekommen. Ist das gerecht?

    Bsirske:Der Vorstoß zur

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    ist richtig. Er nimmt eine Forderung der Gewerkschaften auf, die sogenannte Rente nach Mindesteinkommen fortzusetzen. Die Zeiten, in denen jemand zu Niedriglöhnen beschäftigt war, müssen aufgewertet werden, um

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    zu verhindern.

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      Aber?

      Bsirske:Kein Aber. Die Grundrente kann Millionen Rentner über den Grundsicherungsanspruch heben und ihnen die

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      ARCHIV - 23.03.2012, Berlin: Ein Rentnerpaar sitzt auf einer Bank und sonnt sich. Der Chef der Diakonie Mitteldeutschland hat eine breitere gesellschaftliche Debatte beim Thema Grundrente angemahnt. (zu dpa «Diakonie-Chef mahnt zur Grundrente Diskussion um Armut im Alter an» vom 09.02.2019) Foto: Stephan Scheuer/dpa +++ dpa-Bildfunk +++
      Von Tim Braune und Kerstin Münstermann

      ersparen. Das stärkt das Vertrauen in die Rente.

      Warum braucht man keine Bedürftigkeitsprüfung? Es könnten Menschen die Grundrente bekommen, die ...

      Bsirske:... Zahnarztgattin sind, wie Stimmen aus Union und FDP monieren. Was ist das für ein Frauenbild? Damit sagt man doch, Frauen sollen sich besser an ihren Mann halten, statt durch eigene Arbeit eigene Rentenansprüche zu erwerben. Bei der Mütterrente hat die Union nicht von der Zahnarztgattin geredet, obwohl auch Frauen die Mütterrente bekommen, die mit einem gut verdienenden Partner zusammenleben. Das ist also kein plausibler Einwand.

      Aber ist es in Ordnung, dass jemand, der Teilzeit gearbeitet hat, durch die Grundrente fast so hohe Rentenansprüche hat wie jemand, der Vollzeit gearbeitet hat?

      Bsirske:Das ist in Ordnung, denn beide werden durch die Grundrente über das Niveau der Grundsicherung gehoben. Ich sage sogar: Man sollte bei der Grundrente auch Zeiten der Arbeitslosigkeit berücksichtigen. Nicht komplett, aber in einer gewissen Größenordnung. Das wäre eine echte Bekämpfung von Altersarmut.

      Ist das denn künftigen Generationen gegenüber gerecht? Irgendwann wird doch die Rechnung kommen. Die Grundrente soll jedes Jahr bis zu sechs Milliarden Euro kosten.

      Bsirske:Umfragen der IG Metall zeigen, dass gerade junge Arbeitnehmer bereit sind, höhere Beiträge in die Rentenversicherung zu zahlen. Sie wollen nur sicher sein, dass sie eine Rente bekommen, mit der sie im Alter anständig über die Runden kommen können.

      Update: Das Interview von Frank Bsirske hat für Diskussionen gesorgt.

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