London. Die Briten leiden zunehmend unter dem EU-Austritt. Die Supermarkt-Regale sind leer gefegt, die Lkw-Staus an den Grenzen werden länger.

  • Seit Anfang des Jahres ist der Austritt Großbritanniens aus der EU endgültig vollzogen
  • Der Brexit sollte den Briten mehr Unabhängigkeit bringen und sorgt derzeit immer häufiger für leere Regale in den Supermärkten
  • Schuld daran sind Probleme beim In- und Export von Waren – die Wirtschaft leidet

Das Geschäft von Ian Perkes ist praktisch über Nacht zum Erliegen gekommen. Der Fischer, der in der Kleinstadt Brixham an der englischen Südküste wohnt, hat seit Beginn 2021 noch keinen Fisch über den Ärmelkanal geliefert. Der Grund ist der Brexit, für den er 2016 selbst gestimmt hat. Seit dem 1. Januar sitzt Perkes in der Bürokratiefalle.

Er muss einen Wust von Exportformularen ausfüllen, hinzu kommen lange Verzögerungen wegen Staus an der Grenze. All das kostet Zeit und Geld. „Ich glaube, ich und viele andere haben einen Fehler gemacht“, sagt er heute über sein Brexit-Votum.

Wenige Wochen, nachdem die britischen EU-Gegner ihre lang ersehnte Unabhängigkeit erreicht haben, herrscht Katerstimmung. Der Brexit kommt für viele Branchen wie ein Schock. Sie müssen eine Vielzahl von Papieren ausfüllen und Genehmigungen einholen. Vor dem EU-Austritt, als Großbritannien noch Mitglied im europäischen Binnenmarkt war, fiel dies alles weg.

Brexit: Johnsons Versprechen haben sich nicht bewahrheitet

In manchen Supermärkten sind die Regale leer gefegt. Spediteure scheuen davor zurück, frisches Obst oder Gemüse aus EU-Ländern nach Großbritannien zu bringen. Sie haben Angst, dass sie durch stundenlange Kontrollen und Zollformalitäten an der Grenze wertvolle Zeit verlieren. Britisches Lammfleisch findet so keine kontinentaleuropäischen Abnehmer.

Aber auch das digitale Geschäft hat Tücken. So müssen britische Käufer, die online Produkte aus einem EU-Land bestellt haben, Einfuhrzölle von bis zu 100 Pfund pro Sendung bezahlen. Lesen Sie hier: Brexit: Diese Folgen hat der Handelspakt für Deutschland

Der Deal, den Premier Boris Johnson im Dezember mit der EU geschlossen hatte, hätte garantieren sollen, dass der Handel so weitergeht wie bisher. Der Regierungschef prahlte noch am 24. Dezember, dass keine Einbrüche bei den Ausfuhren zu befürchten seien – im Gegenteil: Das Brexit-Abkommen erlaube es „unseren Exportfirmen, noch mehr Geschäfte mit unseren EU-Partnern zu machen“.

Die Wirklichkeit sieht jedoch ganz anders aus. Zu den Betroffenen gehören ausgerechnet die britischen Fischer, die in großer Zahl für den Brexit waren. Johnson hat ihnen goldene Zeiten prophezeit, weil ihnen ein größerer Teil der Fangquoten in britischen Gewässern zugesprochen wurde.

Briten vollziehen Bruch mit der EU

weitere Videos

    Großbritannien: Fischern vergammeln ihre Fänge

    Aber eine Woche nach Jahresbeginn meldeten Fischer, dass ihre Fänge auf den Booten verderben, weil sie nicht exportiert werden können. Die Formulare, die jetzt ausgefüllt werden müssen, führen zu endlosen Verzögerungen bei der Lieferung. Die britischen Fischer verkaufen die meisten ihrer Produkte nach Belgien, Frankreich, Spanien und in andere EU-Länder. Viele der Meerestiere werden von den Briten kaum konsumiert. Hintergrund: Endlich ein Brexit-Deal – aber warum nur so spät?

    Die Produkte seien verfault, wenn sie in der EU ankommen, schimpft Alistair Roberts von der Clyde Fishermen’s Association. Vor dem Brexit dauerten die Grenzformalitäten weniger als eine Stunde. Heute hingegen müssen die Lkw, vollgepackt mit frischem Fisch, bis zu fünf Stunden warten, bis sie in ein EU-Land gelassen werden. Die Just-in-time-Produktion ist extrem eng getaktet und erlaubt keine Verzögerungen. „Wir werden diese Märkte verlieren“, warnt Roberts.

    25 Milliarden Pfund Einbußen für britische Exporteure

    Auch anderen Branchen machen die zusätzlichen Grenzformulare, Gebühren und Kontrollen schwer zu schaffen. Manche großen Konzerne haben schon vor Wochen angekündigt, wegen gestiegener Kosten die EU nicht mehr zu beliefern. Aber vornehmlich sind es die fast sechs Millionen kleinen und mittleren Firmen, denen die Brexit-Folgen Kopfzerbrechen bereiten.

    Andrew Moss, Leiter eines Betriebs mit 37 Angestellten, die Werbekonzepte erarbeiten, sagte, dass die vergangenen drei Wochen ein Albtraum gewesen seien. Wenn er eine Lieferung in ein EU-Land schicke, müsse der Empfänger rund 20 Prozent Mehrwertsteuer vorab bezahlen – und viele weigerten sich. Zeitweise hielt Moss die Situation für so ausweglos, dass er erwog, sein Geschäft ganz dichtzumachen. Jetzt wird er wohl eine Tochterfirma in der EU gründen, um die Extrakosten zu umgehen.

    • Der Schaden für die britische Wirtschaft ist enorm.
    • Nach Schätzungen der Handelsversicherungsfirma Euler Hermes müssen allein die britischen Exporteure 2021 mit Einbußen von 25 Milliarden Pfund rechnen.
    • Die Regierung in London zeigt sich nicht besonders besorgt über das Brexit-Chaos.
    • Premier Johnson sprach lediglich von „teething problems“ – Kinderkrankheiten, die bald verschwinden würden.

    Mehr zum Thema: Standortranking: Deutschland verliert an Attraktivität

    Anm. d. Red.: In einer früheren Version dieses Beitrags wurde im Zusammenhang mit der Darstellung, dass manche großen Konzerne schon vor Wochen angekündigt haben, wegen gestiegener Kosten die EU nicht mehr zu beliefern, die Speditionsfirma DPD als Beispiel genannt. Wir haben diesen Zusatz entfernt, da dieser missverstanden werden konnte. Tatsächlich hatte die britische DPDgroup UK Limited im Januar einen Lieferstopp in die EU verhängt, allerdings nicht dauerhaft, sondern nur für wenige Tage.