Jerusalem. Mitten im Krieg kämpft Israels Ministerpräsident um sein politisches Überleben. Nicht nur in der Armee wächst das Misstrauen.

Es hat 29 Grad im Schatten, aber Benjamin Netanjahu trägt Daunenjacke. Tiefe Furchen prägen die Stirn des Ministerpräsidenten von Israel, während er den Generälen seinen Kommando-Zeigefinger entgegenstreckt. Das ist die Bildsprache, die in diesen Tagen aus dem Büro des Regierungschefs an die Medien dringt: Seht her, hier ist er, der Selenskyj des Nahen Ostens. Der allseits bewunderte Anführer im Kampf gegen einen ruchlosen Feind.

Die Wirklichkeit sieht ganz anders aus. Mitten im Krieg laufen jenem Menschen, der Israel länger regiert hat als jeder andere Politiker, die Menschen in Scharen davon. Mehr als zwei Drittel der Israelis erklärten zuletzt, sie hätten nur geringes Vertrauen in Netanjahus Fähigkeit, das Land durch diesen Krieg zu führen. In dieser Phase des Schocks, in der die ganze Nation spürbar zusammenrückt, ist diese Distanzierung bemerkenswert.

Wegen Netanjahu: Regierungsmitglieder erwägen Rücktritt

Selbst vor Netanjahus engsten Begleitern macht diese Entwicklung nicht halt. Hohe Parteifunktionäre kritisieren ihn zwar nicht öffentlich, hinter den Kulissen aber umso lauter. „Feig“ sei Bibi, wie die Israelis Netanjahu nennen. Mindestens vier Regierungsmitglieder sollen den Rücktritt erwägen, um zu verhindern, dass das angegraute Image des Ministerpräsidenten auf sie abfärbt. Sie alle entstammen Netanjahus Likud-Partei. „Entweder er trifft gar keine Entscheidungen, oder er trifft die falschen“, sagt einer von ihnen über Netanjahu.

Zwanzig Tage nach dem verheerenden Überfall der Terrorgruppen auf Israel warten die Bodentruppen immer noch auf den Marschbefehl nach Gaza. „Wir sind jederzeit bereit, aber die Politik hat nicht entschieden“, sagte der Sprecher der Streitkräfte, Daniel Hagari.

Israels Ministerpräsident schiebt Schuld für Versagen des Sicherheitsapparats von sich

Das Misstrauen gegenüber Netanjahu hat längst auch die Armee erfasst, und es beruht auf Gegenseitigkeit. Netanjahu hat in seinem Büro einen eigenen Militär-Mediensprecher ernannt. Das ist höchst ungewöhnlich, da diese Aufgabe bei der Armee-Pressestelle liegt. Diese gehorcht aber Verteidigungsminister Joav Gallant, und ihm würde Netanjahu gerne die Alleinschuld für das Versagen des Sicherheitsapparats im Vorfeld des 7. Oktober zuschieben. Der neue Sprecher soll das für ihn erledigen. Und davon ablenken, dass auch Netanjahu über eine Hamas-Mobilisierung gewarnt worden war. Die Warnungen wurden nicht ernst genommen. Zu sicher war man sich, dass die Hamas an keiner Eskalation interessiert sei.

Im Unterschied zu Netanjahu hat das Militär immerhin Fehler eingeräumt. Der oberste Kommandant des Militärgeheimdienstes sagte, er übernehme „die volle Verantwortung“ für das Versagen der Dienste im Vorfeld. Netanjahu hingegen schickt seine Vasallen vor – treue Parteifunktionäre, die dann in Interviews erklären, die Schuld liege einzig und allein bei der Armee.

Das einzig Berechenbare an Netanjahu ist seine Unberechenbarkeit

Die dicke Luft zwischen Netanjahu und den Generälen ist kein Nebenprodukt des aktuellen Krieges. Der Ministerpräsident hat sie schon vor Monaten herangezüchtet, indem er alle Warnungen der Armee ausschlug, dass der Justizcoup die nationale Sicherheit gefährde. Da Netanjahu daran scheiterte, den eindringlich mahnenden Verteidigungsminister mundtot zu machen, feuerte er ihn. Den Kampfpiloten, den Geheimdienstprofis, die daraufhin mit Dienstverweigerung drohten, ließ Netanjahus Entourage bloß ausrichten, sie seien elitär, abgehoben und ohnehin verzichtbar. Wie unverzichtbar sie heute sind, beweisen sie nun Tag und Nacht im Luftraum über Gaza und in den Kommandozentralen.

Wird Netanjahu zurücktreten? Das einzig Berechenbare an Netanjahu ist seine Unberechenbarkeit. Der Druck auf die Regierung steigt indes. Wann immer sich ein Minister oder eine Vertreterin der Regierungsparteien in der Öffentlichkeit blicken lässt, werden sie lautstark ausgebuht. Niemandem ist entgangen, dass die Regierung in den vergangenen Monaten nur auf ein Thema fokussiert war – die Entmachtung der Justiz –, während Israels Sicherheit vernachlässigt wurde.

Netanjahu ist als Politiker bekannt, der Umfragen sehr genau studiert. Sein Rezept, um dem öffentlichen Zorn zu begegnen, ist, ihm auszuweichen. Angehörige der nach Gaza verschleppten Israelis beklagen, dass sich bisher zwar Tausende Freiwillige und Hunderte Journalisten bei ihnen gemeldet haben – aber kein einziger Regierungsvertreter.

Geisel erzählt von Gefangenschaft – aus der Regierung ist niemand anwesend

Als die aus Gaza befreite Geisel Yocheved Lifschitz am Dienstag vor die Medien trat, war kein Regierungsvertreter anwesend, um die 85-Jährige dabei zu begleiten. Niemand stand ihr beiseite, als sie Hunderttausenden TV-Zuschauern von den exzellenten Bedingungen in Hamas-Geiselhaft erzählte: Man habe ihr nicht nur Schampoo, sondern auch Haarbalsam zur Verfügung gestellt und ihren Wunsch nach fettreduziertem Streichkäse nur zu gerne erfüllt, erzählte Lifschitz. Dass sich ihr Mann immer noch in den Händen der Terroristen befindet und sie alles tun würde, um seine Sicherheit nicht zu gefährden, macht Lifschitzs Aussagen verständlich, wenn nicht weniger problematisch. Es war aber auch niemand da, um sie zu coachen.

Yocheved Lifschitz (M.) spricht gemeinsam mit ihrer Tochter Sharone Lifschitz (l.) bei einer Pressekonferenz in Tel Aviv.
Yocheved Lifschitz (M.) spricht gemeinsam mit ihrer Tochter Sharone Lifschitz (l.) bei einer Pressekonferenz in Tel Aviv. © Getty Images | ALEXI J. ROSENFELD

Der Shitstorm, der danach folgte, weil Lifschitz’ Narrariv der offiziellen Kriegspropaganda widerspricht, traf nicht die Regierung – sondern den Pressesprecher des Krankenhauses, in dem die Pressekonferenz abgehalten wurde. Praktisch für Bibi. Er posiert weiter in Daunenjacke und mit staatstragender Stirn, wenn er nicht gerade vor der Öffentlichkeit flieht. Die Verantwortung tragen andere. Noch.

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