Brüssel/Berlin. Das Flugzeug mit Blogger Roman Protassewitsch wurde in Minsk zur Landung gezwungen. Was wusste der russische Präsident Putin davon?

Nach der Kaperung eines Ryanair-Passagierflugzeugs durch die belarussischen Behörden rückt jetzt die Rolle Russlands immer stärker in den Fokus: Was wusste der russische Präsident Wladimir Putin von dem Manöver, waren seine Dienste sogar involviert? In Berlin und Brüssel mehren sich die Stimmen, die von einer Mitwisserschaft oder gar einer Mitverantwortung Russlands ausgehen – mit entsprechenden Konsequenzen auch für das Verhältnis zu Moskau. Beweise gibt es bislang nicht, Indizien schon.

Der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses im Bundestag, Norbert Röttgen (CDU), sagte unserer Redaktion: „Die Wahrscheinlichkeit, dass Lukaschenkos Luftpiraterie ohne das Wissen des Kreml vonstatten gegangen ist, halte ich für extrem gering.“ Putin habe diese internationalen Straftaten „mindestens toleriert oder abgesegnet“. Röttgen fügte hinzu: „Ob er sie operativ aktiv unterstützt hat, wissen wir zum jetzigen Zeitpunkt nicht.“ Es bestünden aber keinerlei Zweifel daran, dass Putin Lukaschenko „völlig in der Hand“ habe.

Der SPD-Außenpolitiker Nils Schmid erklärte, die erzwungene Landung trage die Handschrift einer russischen Spezialoperation, deshalb sei aus seiner Sicht klar: „Das hat nicht Belarus allein durchgeführt.“ Die Vizepräsidentin des Europäischen Parlaments, Nicola Beer (FDP), sagte: „Hinter dem beispiellosen Agieren des skrupellosen Machthabers Lukaschenko steht der Kreml.“

Beziehung zu Russland: Lukaschenko ist weitgehend abhängig von Putin

Drei Punkte vor allem sind es, auf die sich solche Vorwürfe stützen: Da ist erstens die weitgehende Abhängigkeit Lukaschenkos von Putin. Die Beziehung der beiden habe sich im vorigen Jahr nach den Wahlen und den Protesten in Belarus deutlich geändert, sagt Andras Racz, Russland-Experte der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP), im Gespräch mit unserer Redaktion: „Lukaschenko ist jetzt von Putin noch abhängiger als zuvor, er ist völlig auf ihn angewiesen. Gleichzeitig ist er international isoliert.“

Zweitens: die enge Kooperation der Geheimdienste. Es handelte sich offensichtlich um eine Operation des belarussischen Geheimdienstes KGB. Aber er und der russische FSB seien wegen der gemeinsamen Vergangenheit in der Sowjetunion immer noch sehr eng miteinander verbunden, meint Racz. Der Russlandexperte ist deshalb sicher: „Es ist unmöglich, dass dieser Vorfall ohne Koordination mit Russland passierte.“

„Manöver konnte nicht ohne Russlands Zustimmung passieren“

Und es gibt drittens ein starkes militärisches Argument: Die Luftabwehrsysteme von Russland und Belarus sind Racz zufolge ebenfalls eng miteinander verbunden. Bei dem Kampfjet, der die Boing 737 zur Landung zwang, handelte es sich um eine Maschine vom russischen Typ MiG-29. „Russland weiß immer, was im belarussischen Luftraum passiert“, so Rasz. „Dieses Manöver konnte nicht ohne Russlands Zustimmung passieren.“

Auffallend ist schließlich auch die provozierend gelassene Kommentierung des Geschehens in Moskau. Die Sprecherin des Außen­ministeriums erklärte, der Westen solle sich „nicht so aufregen“, solche Fälle habe es auch in westlichen Staaten schon gegeben. Aber all das heißt nicht zwingend, dass Russland direkt beteiligt war. Die Politikwissenschaftlerin Tatjana Stanowaja vom Carnegie Moscow Center, dem Ableger eines amerikanischen Think Tanks, lässt sich mit der Einschätzung zitieren, sie sei „hundertprozentig sicher“, dass Lukaschenko die Entscheidung allein getroffen habe – auch wenn er Putin möglicherweise informierte.

Milliardenkredit für Minsk – aus russischer Staatskasse

Tatsächlich ist die Beziehung Lukaschenkos und Putins ambivalent. Freunde sind sie sicher nicht. Putin hätte voriges Jahr nichts gegen einen lautlosen Generationswechsel im Minsker Regime gehabt, und Lukaschenko versucht, sich einen letzten Rest an Unabhängigkeit zu bewahren. Aber Putin stützt das Regime, weil er fürchtet, ein von Protesten erzwungener Machtwechsel in Belarus werde auch die Opposition in Russland stärken und ermutigen. So gewährte der russische Präsident dem Regime in Minsk zuletzt einen Milliardenkredit.

„Ohne Putins umfassende Unterstützung wäre Lukaschenko schon lange nicht mehr an der Macht“, sagt der CDU-Außenpolitiker Röttgen. Für ihn ist die „staatliche Flugzeugentführung“ ein erneuter Weckruf für das Verhältnis zu Russland. „In einer solchen Situation zu glauben, dass Moskau an einem Dialog interessiert wäre oder dieser zu irgendwas führen würde, ist schlicht naiv“, meint Röttgen. Er fordert eine gemeinsame europäische Russlandpolitik, die auf Realismus basiere. „Putin versteht nur eine Sprache: die von Geld und Gas. Mit Gesprächstherapie kommen Deutschland und die EU hier nicht weiter.“

Die EU überdenkt bereits ihren Kurs: Beim Gipfel in Brüssel beschlossen die EU-Regierungschefs eine Erklärung, in der sie Moskau „illegale, provokative und disruptive Aktivitäten“ gegen die EU vorwerfen. Der nächste Gipfel Ende Juni soll umfassend über die Russlandpolitik beraten. Dann dürfte es, hieß es am Rande des Treffens, auch um die Zukunft des umstrittenen Gaspipeline-Projektes Nord Stream 2 gehen.