Berlin. Die Corona-Lage in Deutschland spitzt sich zu. Merkel, Lauterbach, Söder und Co richten sich an die Bürger. Das sind ihre Botschaften.

  • Im März wurde das öffentliche Leben in Deutschland wegen der Corona-Pandemie komplett heruntergefahren
  • Die Corona-Zahlen waren kurz zuvor exponentiell nach oben gestiegen
  • Heute sind die täglichen Fallzahlen noch höher, Politiker wie Karl Lauterbach warnen vor einem weiteren Lockdown
  • Wie kann dieses Szenario verhindert werden?

Der Appell konnte nicht ernster sein. „Halten Sie sich an die Regeln“, ruft Angela Merkel (CDU) im Fernsehen. „Es kommt ohne Ausnahme auf jeden Einzelnen und damit auf uns alle an.“ Es ist der 18. März, und das öffentliche Leben in Deutschland wird gerade runtergefahren: Lockdown.

Fast genau auf den Tag sieben Monate später wandte sich die Kanzlerin am Wochenende erneut direkt an die Bürger, diesmal nicht im Fernsehen, sondern in einer Videoansprache, in ihrem Podcast. Zurecht, meint der SPD-Abgeordnete Karl Lauterbach. „Es wird darauf ankommen, wie sich die Bevölkerung verhält“, sagte er unserer Redaktion. Der Mediziner ist überzeugt: „Das ist wichtiger als einzelne Maßnahmen.“

Erneuter Lockdown wegen Corona?

Im Frühjahr rätselte die Welt, warum Deutschland im Vergleich zu seinen Nachbarn das Virus so gut eindämmen konnte, besser als andere. „Unsere vielleicht größte Stärke“, verriet der Heidelberger Virologe Hans-Georg Kräusslich der „New York Times“, sei die rationale Entscheidungsfindung auf höchster Regierungsebene – „in Verbindung mit dem Vertrauen der Bevölkerung“.

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An der Entscheidungsfindung wird immer häufiger Kritik geübt. Auch Merkel konnte nach dem letzten Treffen mit den 16 Ministerpräsidenten am Mittwoch ihre Enttäuschung nicht verbergen. Aber auf das Vertrauen der Bevölkerung kann sie weiterhin zählen.

  • Mehr als zwei Drittel der Deutschen sind nach einer Umfrage des Kantar-Instituts mit dem Corona-Krisenmanagement der Bundesregierung tendenziell zufrieden.
  • Demnach beurteilen 68 Prozent der Befragten das Coronakrisenmanagement der Bundesregierung als „eher gut.“

Wenn es politisch eng wird, wendet sich Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) wie aktuell im Podcast direkt an die Bürger. Manche Volksvertreter sind irritiert. Wenn die Lage dramatisch sei, solle sie eine Regierungserklärung abgeben.
Wenn es politisch eng wird, wendet sich Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) wie aktuell im Podcast direkt an die Bürger. Manche Volksvertreter sind irritiert. Wenn die Lage dramatisch sei, solle sie eine Regierungserklärung abgeben. © dpa | Olivier Hoslet

Die Frage ist für Lauterbach, ob es gelingt, einen ausreichend großen Teil der Bevölkerung davon zu überzeugen, die Kontakte einzuschränken. Darauf käme es schon deswegen an, weil viel Auflagen sich ohnehin schwer überprüfen ließen, gerade die Kontaktbeschränkungen im privaten Umfeld, erinnert er.

Dazu kommt, dass einige Verschärfungen - Sperrstunde in Berlin - nach Gerichtsentscheidungen auf der Kippe stehen und viele Länder dabei sind, ein Beherbergungsverbot für innerdeutsche Reisende aus Risikogebieten aufzuheben. Fühlt sich Merkel allein gelassen, wie ein Teilnehmer des Treffens mit den Länderchefs empfand? Sucht sie deswegen den direkten Draht zum Bürger wie in ihrem Podcast? „Verzichten Sie auf jede Reise, die nicht wirklich zwingend notwendig ist.“ Soll heißen: auch ohne Beherbergungsverbot. Lesen Sie hier: Diese Kreise und Städte in Deutschland sind Corona-Risikogebiete.

Ob sie auf die Länder zählen kann oder nicht, ist für Lauterbach eine theoretische Frage. „Wir könnten durch ein Bundesgesetz Vorgaben beschließen.“ Der Bundestag und auch der Bundesrat hatten Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) im Frühjahr dazu ermächtigt, eine epidemische Lage von nationaler Tragweite auszurufen.

Als Spahn in der letzten Wochen eine Änderung des damaligen Gesetzes auf den Weg brachte, ging aus der ministeriellen Vorlage hervor, dass eine Fortentwicklung der gesetzlichen Grundlagen „auch über den 31. März 2021 hinaus“ angezeigt sei. Der Bund, so die Botschaft, will die Zügel in der Hand behalten.

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Deutschland: Die Ministerpräsidenten werden sich fügen

SPD-Mann Lauterbach geht nicht davon aus, dass die Länder dies streitig stellen werden. Sie könnten – das lässt das Gesetz zu – das Ende der epidemischen Lage erklären, die Spahn ausgerufen hat und damit Merkel in ihrer Machtlosigkei t vorführen. „Der Konfliktfall wird nicht eintreten“, sagt aber Lauterbach.

„Wenn wir in den nächsten zwei Wochen nicht aus dem exponentiellen Wachstum rauskommen, wird es auch bei den Ministerpräsidenten keinen Widerstand geben“, ist er sich sicher. „Dann wird es einschneidende Maßnahmen geben müssen, und die werden dann von allen Ministerpräsidenten getragen.“

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Karl Lauterbach, SPD-Bundestagsabgeordneter und Gesundheitsexperte, ist überzeugt: „Es wird darauf ankommen, wie sich die Bevölkerung verhält.“ Das sei sehr viel wichtiger als einzelne Maßnahmen.
Karl Lauterbach, SPD-Bundestagsabgeordneter und Gesundheitsexperte, ist überzeugt: „Es wird darauf ankommen, wie sich die Bevölkerung verhält.“ Das sei sehr viel wichtiger als einzelne Maßnahmen. © dpa | Kay Nietfeld

Coronavirus: Die Kraft des exponentiellen Wachstums

Einen Sommer lang haben die Länderchefs ihren Spielraum genutzt, einmal zur Eigenprofilierung, dann aber auch, weil es ihnen angemessen erschien, auf die Pandemie vor Ort zu reagieren. Aber alles Denken in Kompetenzen, Einflusssphären, Machtkategorien stößt an Grenzen.

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Wissenschaftler nennen das Phänomen die normative Kraft des Faktischen. Wenn man Lauterbach zuhört, hat man es mit Naturgewalten zu tun: „Das exponentielle Wachstum hat eine solche Kraft – da würde jedem einleuchten, dass nichts mehr stattfinden kann. Dann würde auch die Wirtschaft einbrechen.“

Pandemie: Strengere Maßnahmen drohen

Noch muss man zehn bis 14 Tage abwarten – erst zeitverzögert zeigt sich, ob die am Mittwoch vereinbarten Maßnahmen wie eine erweiterte Maskenpflicht greifen und vor allem, ob die Menschen die Auflagen beherzigen. Wenn nicht, müssten strengere Auflagen folgen. „Darüber zu spekulieren, ist müßig“, wehrt Lauterbach ab. „Es wäre nicht gut, weitere Maßnahmen zu fordern.“ Lauterbach sagt: „Sie werden sich einfach zeigen.“

Damals im Frühjahr konnten Millionen Deutsche nicht zur Arbeit, Ihre Kinder nicht zur Schule oder in die Kita, Theater und Kinos waren geschlossen, die meisten Geschäfte auch. Damals hält der Präsident des Robert Koch-Instituts (RKI), Lothar Wieler, es für undenkbar, ganze Risikogebiete komplett abzuriegeln. Inzwischen halte er das für vorstellbar, verrät er in der vergangenen Woche im Interview mit „Phoenix“.

Covid-19: Politik als reine Affekthandlung

„Es ist ganz simpel“, erläutert Lauterbach. Der R-Wert liegt bei etwa 1,3. Aktuell steckt jeder Infizierte im Durchschnitt 1,3 andere Menschen an. Wenn man diesen Wert nicht drücken könne, „steigen die täglichen Fallzahlen innerhalb kürzester Zeit so stark an, dass die Kliniken und Gesundheitsämter überlaufen werden. Dann kommen lokale Shutdowns.“

Eine ernüchternde Analyse. Demnach haben Bund und Länder im Vergleich zum Frühjahr die Fähigkeit verloren, vorbeugend zu handeln. Affekthandlungen überwiegen: Starke Infektionszahlen erfordern starke Maßnahmen. Beste Prävention würde genau anders herum verlaufen: Starke Maßnahmen, damit die Zahlen gar nicht erst ansteigen.

Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU) ist überzeugt: „Wer zögert, riskiert einen zweiten Lockdown.“
Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU) ist überzeugt: „Wer zögert, riskiert einen zweiten Lockdown.“ © dpa | Matthias Balk

Markus Söder und das „Team Umsicht und Vorsicht“

Das Virus lässt den Politikern keinen Spielraum. Das wäre nur anders, erläutert Lauterbach, wenn es sich gezeigt hätte, dass zwar die Zahl der Neuinfizierungen steigt, nicht aber die der Sterbefälle. Aber die Sterblichkeit beträgt ein Prozent und wird im exponentiellen Wachstum steigen, sagt er.

„Weder haben Mutationen die Gefährlichkeit des Virus abgemildert noch haben wir irgendein Medikament, das die Sterblichkeit nennenswert reduziert“. Man habe nur eines neu lernen müssen: „Dass zu den Todesopfern noch viele erkrankte Menschen mit bleibenden Schäden dazukommen.“

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„Wenn wir nicht rasch gegensteuern, gerät Corona außer Kontrolle“, wiederholt Bayerns Ministerpräsident Markus Söder seit Tagen. „Wer zögert, riskiert einen zweiten Lockdown.“ Am Ende spielten alle „hoffentlich doch alle in einem Team, nämlich in dem Team „Umsicht und Vorsicht“, hatte er nach dem Bund-Länder-Treffen erklärt.

Corona: Die FDP verlangt eine Regierungserklärung

Wie schnell sich die Stimmung drehen kann, zeigt das Beispiel des sächsischen Ministerpräsidenten Michael Kretschmer (CDU). Noch vor vier Tagen ließ er sich mit der Kritik zitieren, „Alarmismus ist schlecht, ständig neue Maßnahmen, Ideen, verbieten, Zügel anziehen auch.“

Am Wochenende klang er plötzlich anders. „Wir sind in der exponentiellen Phase“, sagte der CDU-Politiker der „Bild am Sonntag“. „Wir müssen damit rechnen, dass sich die Zahl der Neuinfektionen im Drei- oder Vier-Tages-Rhythmus verdoppelt.“

Merkels Mahnungen, Söder Warnungen, Kretschmers Einsichten – FDP-Chef Christian Lindner wundert sich. „Wenn die Bundeskanzlerin eine solche Dramatik sieht, muss sie umgehend eine Regierungserklärung abgeben. Ein Podcast ersetzt nicht die Debatte im Bundestag, wenn es um Grundrechte geht.“ Die Kanzlerin zog es vor, sich direkt ans Volk zu wenden. Vorbei an seinen gewählten Vertretern.