Berlin. Die Infektionslage in Deutschland entspannt sich – doch die Zahl der täglichen Covid-19-Toten bleibt erschreckend hoch. Die Gründe.

  • Aktuell sterben in Deutschland besonders viele Menschen in Verbindung mit dem Coronavirus
  • Dabei gehen die Infektionszahlen zurück
  • Wir erklären, warum das nicht unbedingt ein Widerspruch ist

Auf den ersten Blick passt das nicht zusammen: Die Zahl der Neuinfektionen, die Sieben-Tage-Inzidenz und die Zahl der Intensivpatienten – sie alle gehen zurück. Die Zahl der täglich gemeldeten Corona-Toten aber bleibt erschreckend hoch. Ende des Jahres waren 30.000 Menschen in Deutschland an Covid-19 gestorben, drei Wochen später sind es schon mehr als 50.000. Wie kann das sein?

Was verändert sich bei den Zahlen?

Die Sieben-Tage-Inzidenz ist in den vergangenen vier Wochen von fast 200 Fällen pro 100.000 Einwohner auf jetzt 115 Fälle gesunken. Auch die Zahl der Covid-19-Patienten auf den Intensivstationen verringert sich: von mehr als 5700 Fällen am 3. Januar auf zuletzt 4787.

Die Zahl der täglich gemeldeten Todesfälle aber bleibt hoch. Am Donnerstag waren es nach Angaben des Robert Koch-Instituts (RKI) 1013 Fälle, am Freitag immerhin noch 859 Fälle. In den vergangenen Tagen lagen die Zahlen oft bei rund 1000 Fällen.

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Welche Erklärungen gibt es?

Erstens: Menschen, die in diesen Tagen sterben, haben sich in der Regel vor dem Jahreswechsel angesteckt; am 25. Dezember lag die Zahl der aktiven Fälle bei fast 400.000. „Die aktuell hohen Todeszahlen – dahinter stehen die hohen Fallzahlen aus der Vorweihnachtszeit“, heißt es beim RKI.

Zweitens: Aktuell stecken sich besonders viele Hochrisikopatienten an: Laut RKI gibt es derzeit über 900 Corona-Ausbrüche in Pflegeheimen. Erst 60 Prozent der Pflegeheimbewohner sind geimpft, die meisten davon auch erst mit der ersten von zwei Impfdosen.

Drittens: Viele Covid-19-Patienten sterben gar nicht in den Kliniken, sondern vielfach auch in Pflegeeinrichtungen. Ohne Gerätemedizin, ohne wochenlange lebenserhaltende Maßnahmen geht der Sterbeprozess oft schneller.

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Wo sterben die Menschen?

Dazu gibt es nur Beobachtungen, aber keine verlässlichen Daten. „Der Bundesgesundheitsminister muss endlich das Robert Koch-In­stitut beauftragen, dazu eine tägliche Statistik zu veröffentlichen“, sagte der Vorsitzende der Deutschen Stiftung Patientenschutz, Eugen Brysch, unserer Redaktion.

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Der Patientenschützer ist alarmiert: Das Durchschnittsalter auf den Intensivstationen sei mittlerweile teilweise auf unter 60 Jahre gesunken. „Doch der Anteil der über 70-Jährigen, die an und mit Covid-19 versterben, beträgt über 90 Prozent. Dieser Widerspruch ist besorgniserregend“, so Brysch.

Es müsse geklärt werden, „warum so viele Hochbetagte und Pflegeheimbewohner die Kliniken gar nicht erst erreichen“, forderte Brysch. Auch SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach beobachtet diese Entwicklung: „Viele Pflegebedürftige, die an Covid-19 erkranken, sterben nach Aussagen von Intensivmedizinern und Pflegeleitern heute in ihren Einrichtungen oder auf Normalstationen, sie werden gar nicht mehr auf die Intensivstationen verlegt“, sagte der Mediziner unserer Redaktion.

Lauterbach: Pflegebedürftige haben eine Sterbewahrscheinlichkeit von 75 Prozent

Lauterbach nannte als mögliche Begründung die Erfahrungen aus der ersten Pandemiewelle: „Pflegebedürftige, die an Covid-19 erkranken, haben eine Sterbewahrscheinlichkeit von zum Teil mehr als 75 Prozent. Wer die Erkrankung überlebt, hat ein hohes Risiko für einen schweren Demenzschub, viele erholen sich trotz Rehabilitationsmaßnahmen nicht mehr davon“, so Lauterbach. Weil viele Pflegebedürftige per Patientenverfügung längere lebenserhaltende Maßnahmen wie etwa künstliche Beatmung ablehnten, entschieden die zuständigen Ärzte zusammen mit den Angehörigen sich nun offensichtlich öfter gegen eine Einweisung in die Klinik.

Er gehe davon aus, dass hinter solchen Entscheidungen medizinische Gründe stünden, so Lauterbach. „Ich glaube nicht, dass hier verdeckte Rationierung eine Rolle spielt, etwa um die Intensivstationen zu entlasten.“

Brysch ist skeptischer: „Liegt eine freie Entscheidung des Corona-Patienten vor, ist das kein Problem.“ Sollten jedoch die Ärzte hier Einfluss nehmen, dann wäre das für die Betroffenen „höchst bedrohlich“.

Brysch verwies auf eine Empfehlung der Kassenärztlichen Vereinigung (KV) in Sachsen, wo das Virus in den letzten Wochen besonders massiv gewütet hatte. Demnach sollten behandelnde Ärzte in Pflegeheimen zunächst eine heiminterne Sauerstofftherapie ins Auge fassen, bevor eine Krankenhaus-Einweisung erfolge. „Durch solche vermeintlich praktischen Vorschläge können medizinische Therapien im Krankenhaus schnell infrage gestellt werden“, warnt der Patientenschützer.

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Welche Rolle spielen hochinfektiöse Mutationen?

Die aktuell hohen Todeszahlen dürften nach Einschätzung des Virologen Christian Drosten noch nichts mit den neuen, hochinfektiösen Virusvarianten zu tun haben. Die Mutationen bereiteten sich offenbar erst seit Anfang des Jahres in Deutschland aus. Aus Einzelfällen seien aber inzwischen kleinere Herde geworden: „Wir sehen jetzt erste Cluster“, sagte Drosten am Freitag.

Studien zeigten, dass die Infektiosität der Mutante um 22 bis 35 Prozent erhöht sei. Seine eindringliche Warnung: Sollte das Virus durch Lockerungen demnächst weniger stark kontrolliert werden, „könnte man in ein Szenario mit täglich mehr als 100.000 Fällen kommen“.