Berlin. Bundeskanzlerin Angela Merkel muss bei ihren Corona-Entscheidungen die Menschen besser mitnehmen, findet unser Autor Miguel Sanches.

Wir waren gewarnt. Schon im Frühjahr gingen die Virologen davon aus, dass der Sommer nur eine kurze Pause bringen und die Corona-Pandemie im Herbst wiederkommen würde. Und diese zweite Welle kündigt sich nun in Deutschland an.

Politische Führungskunst besteht darin, viele Menschen mitzunehmen: mit einem planvollen Vorgehen, mit Perspektive. Nicht mit Angst, nicht mit neuen Maßnahmen im Zwei-Wochen-Rhythmus, sondern mit kühlem Kopf.

Corona-Politik: Es wird zu wenig über die Nebenwirkungen geredet

Miguel Sanches kommentiert die Corona-Politik der Bundesregierung.
Miguel Sanches kommentiert die Corona-Politik der Bundesregierung. © FUNKE Foto Services | Reto Klar

Im Frühjahr waren die Angst und das Unwissen über Covid-19 so groß, dass die staatlichen Corona-Auflagen selbsterklärend und politisch ein Selbstläufer waren.

Heute ist die Ausgangslage anstrengender: Objektiv, weil eine monatelange Phase mit Wetter und Verhältnissen ansteht, die eine Ausbreitung des Virus begünstigen.

Und emotional, weil viele Menschen erschöpft und irritiert sind – die (Selbst-)Isolierung kann belastend sein. Über den Beipackzettel mit den Risiken und Nebenwirkungen der Corona-Politik wird zu wenig geredet.

Sind die Maßnahmen verhältnismäßig?

Immer mehr fragen, ob die Maßnahmen verhältnismäßig sind. Der Tunnelblick auf die täglichen Neuansteckungen ist nicht erhellend genug. Es kommt nicht nur darauf an, wie viele sich infizieren, sondern wie viele ernsthaft an Covid-19 erkranken.

Bislang gibt es keine relevante Übersterblichkeit in Deutschland. Nachträglich fragt man sich, wie wir nur 25.000 Grippetote im Winter 2017/2018 verkraftet haben, ohne dass jemand „Kontrollverlust“ geschrien hat. Lesen Sie dazu: Corona-Lage in Deutschland: Spahn warnt vor Kontrollverlust

Unsere Freiheiten sind massiv eingeschränkt

Es gibt zwei parallele Entwicklungen: eine breite Akzeptanz für die Einschränkungen von persönlichen Freiheiten, aber auch eine politische Platzangst, weil unsere Freiheiten eingeengt werden und der Staat immer mehr zumindest mittelbar beeinflusst: Wie wir feiern oder auch wo, wann wir Urlaub machen.

Der Unmut nimmt zu, zumal in den Ballungsräumen, wo Freiräume fehlen. In den Großstädten entscheidet sich nicht nur, ob es zum Kontrollverlust kommt. Sie sind das Testfeld dafür, wie weit die Menschen bereit sind, die Auflagen zu befolgen. Lesen Sie auch: Diese neuen Regeln gelten für deutsche Corona-Risikogebiete

Viel Akzeptanz, aber wachsender Unmut

Es ist kein Zufall, dass sich in den europäischen Metropolen Proteste häufen. Akzeptanz ist eine kritische Größe. In Deutschland gehen viele Leute nur deshalb nicht auf die Straße, weil sie nicht in falscher Gesellschaft sein wollen, nicht an der Seite von Esoterikern, Impfgegnern, Aluhut-Trägern.

Von Bundeskanzlerin Merkel gibt es seit Monaten Variationen von Durchhalte- und Maßhalteparolen. Ihre Politik wirkt angstgetrieben, situativ. Hier eine Lockerung, dort die Wiedereinführung einer Einschränkung. Ein Schritt vor, zwei Schritte zurück. So ein Vorgehen ist auf Dauer schwer erträglich. Lesen Sie mehr: Deutschen Urlaubern droht ein Reise-Chaos im Corona-Herbst

Drosten: In den Schulen fehlt es an Corona-Schutz

Der Virologe Christian Drosten hat zuletzt den Kultusministern vorgeworfen, sich monatelang nicht um einen angemessenen Corona-Schutz in den Schulen gekümmert zu haben. Man wundert sich, dass in den Krankenhäusern Betten frei sind, aber Pflegekräfte fehlen. Beides ist kein Ausweis von weitsichtiger Politik.

Zu Beginn der Pandemie hielt es Drosten für wahrscheinlich, dass sich 60 bis 70 Prozent der Bürger infizieren werden. Die Frage war nicht, ob, sondern wie schnell, in welcher Zeitspanne. Das Paradoxe an den strengen Eindämmungsmaßnahmen: Je mehr wir uns gegen das Virus abschotten, desto größer ist auch der Kreis der Personen, für die eine zweite Welle noch zum Risiko wird.

Virologe Drosten kritisiert Corona-Irrlichter

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    Es scheint, dass es zwei politische Entwürfe in der Pandemie gibt: Die einen wollen das Virus aufhalten, bis ein Impfstoff gefunden ist. Sie wissen nicht, ob, wann und wie wirksam er sein wird. Aber sie glauben daran. Es hat etwas Religiöses. Die anderen raten zu Strategien, die davon ausgehen, dass wir mit Covid-19 auf unbestimmte Zeit werden leben müssen. Das ist berechenbarer.