Berlin. In sechs Wochen soll es in Deutschland einen „Freedom Day“ geben, fordern die Kassenärzte und stoßen auf heftige Kritik. Warum nur?

„Freedom Day“ haben die Engländerinnen und Engländer den Tag genannt, an dem die britische Regierung sie von den Corona-Beschränkungen „befreit“ hat. Und einige europäische Nachbarn folgen dem Vorbild. Damit haben sie eine heftige Debatte auch in Deutschland entfacht. „Freedom Day“ statt „German Angst“? Können auch hierzulande die Beschränkungen fallen? Die wichtigsten Fragen und Antworten:

Wie lief es in Großbritannien?

Viele Diskotheken und Bars waren rappelvoll. Und als Big Ben mit seinem tiefen Glockenklang um Mitternacht den Beginn des 19. Juli 2021 verkündete, knallten die Sektenkorken. England feierte den Freedom Day – das Ende der Corona-Beschränkungen. Trotz der Delta-Welle im Land hatte sich der britische Premierminister Boris Johnson entschlossen, den Tag nicht noch einmal zu verschieben. Eigentlich wollte er das bereits vier Wochen früher machen – doch die grassierende Delta-Variante und die hohen Infektionszahlen brachten ihn davon ab.

Seit 19. Juli sind Maske tragen und Abstand halten nun aber freiwillig. Es gibt keine Beschränkungen mehr für Bars, Diskos oder private Feiern. Theatersäle, Kino, Festivals dürfen wieder voll besetzt werden.

Gilt das für ganz Großbritannien?

Nein, in dieser Frage entscheidet Boris Johnson nur für England. Schottland, Wales und auch Nordirland sind nicht so forsch, haben eine etwas vorsichtigere Corona-Politik.

Gibt es andere Länder, die die Corona-Maßnahmen aufgehoben haben?

Ja, im September hat beispielsweise auch Dänemark die Beschränkungen zurück genommen. „Die Pandemie ist unter Kontrolle“ hatte der dänische Gesundheitsminister zuvor mitgeteilt. Weil Corona keine „gesellschaftliche Krankheit“ mehr sei, gäbe es keine gesetzliche Grundlage mehr für einschränkende Regelungen wie beispielsweise das Versammlungsverbot.

Weil die Impfquote in Dänemark sehr hoch ist – mehr als 73 Prozent waren zu diesem Zeitpunkt bereits doppelt geimpft – sei die Aufhebung möglich, erklärte die Regierung in Kopenhagen. In Dänemark zeigt sich auch: Fast alle heutigen Covid-Patienten, die im Krankenhaus behandelt werden müssen, sind ungeimpft. Sollte sich die Lage in den Krankenhäusern wieder verschärfen, schließt die Regierung neue Einschränkungen nicht aus.

Wer hat die Debatte in Deutschland angestoßen?

Auch in Deutschland wird heftig über einen Freedom Day gestritten. Der Vorsitzende der deutschen Kassenärzte, Andreas Gassen, hatte ihn am Wochenende ins Gespräch gebracht. „Nach den Erfahrungen aus Großbritannien sollten wir auch den Mut haben zu machen, was auf der Insel geklappt hat“, sagte er der Neuen Osnabrücker Zeitung.

Was fordert der Kassenärztechef?

Der Mediziner Andreas Gassen, Vorstandsvorsitzender der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV), fordert eine klare Haltung der Politik. Von dort müsse jetzt die Ansage kommen: „In sechs Wochen ist auch bei uns Freedom Day. Am 30. Oktober werden alle Beschränkungen aufgehoben.“

Warum fordert der Mediziner die Aufhebung aller Beschränkungen am 30. Oktober?

Dieses Datum gebe jedem, der noch wolle, ausreichend Zeit sich noch impfen zu lassen, sagte er. Zudem hält Gassen das deutsche Gesundheitssystem für leistungsfähiger als das britische, und auf der Insel sei das Gesundheitssystem auch nicht zusammengebrochen nach der Aufhebung der Schutzmaßnahmen. Er glaubt zudem, dass sich Deutschland endlos weiter durch die Pandemie schleppt, wenn nicht irgendwann ein Datum für die Abschaffung der Beschränkungen genannt würde.

Gibt es Kritik an dem Vorstoß?

Jede Menge. Nicht nur SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach stemmt sich dagegen. Er hält einen „Freiheitstag“ mit festem Termin für „nicht ethisch vertretbar“. Die Welle der Pandemie, die das auslösen würde, wäre zu groß, schreibt er auf Twitter.

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Die 2G-Regel sollte gelten bis 85 Prozent der Bevölkerung geimpft seien. Es werde „voll unterschätzt, wie schwer die nächsten Monate noch sein können ohne höhere Impfquote. SarsCoV besiegt man nicht mit Brechstange“, warnt Lauterbach.

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Wer übt außerdem Kritik?

Auch Susanne Johna, Vorsitzende des Ärzteverbandes Marburger Bund, ist strikt dagegen. Es sei nicht kollegial, zunehmende Belastung der Kliniken durch Covid-19-Patienten „einfach zu ignorieren, weil man das Masketragen leid ist,“ sagte sie dem Redaktionsnetzwerk Deutschland. Die Impfquote sei viel zu niedrig, um die Maskenpflicht in Innenräumen aufzuheben.

Wie denken Lehrerverband und Pflegende über den Vorstoß?

Auch der Deutsche Lehrerverband und der Berufsverband für Pflegeberufe sprechen sich gegen eine Stichtagsregel aus. Lehrer-Verbandspräsident Heinz Peter Meidinger verweist darauf, dass ein Großteil der Kinder und Jugendlichen keine Chance gehabt hätte, sich impfen zu lassen. Und die Schulen hätten bereits heute mit einer heftigen vierten Welle zu kämpfen und verzeichneten unter den Kindern Inzidenzen von bis zu 800. „In dieser Lage alle Gesundheitsschutzmaßnahmen an Schulen einzustellen, wäre nicht nur fahrlässig und verantwortungslos“, sagte er dem Redaktionsnetzwerk Deutschland.

Was plant die Bundesregierung?

Kanzleramtschef Helge Braun (CDU), selbst Arzt, lehnt die Aufhebung der Corona-Schutzmaßnahmen am 30. Oktober ab. Es könne gut sein, dass es noch eine vierte Welle geben werde. Und etwa 20 Millionen Menschen in Deutschland hätten noch keinen Impfschutz. Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) rief die über 60-Jährigen erneut zum Impfen auf. Fast jeder Sechste in dieser Gruppe habe ich noch nicht impfen lassen. Erst mit einer Impfquote von mehr als 80 Prozent komme man gut durch Herbst und Winter, so Spahn.

Gibt es eine zeitliche Perspektive?

Die Bundesregierung nennt keine Fristen oder gar ein Datum für einen „Freiheitstag“. Der Vorsitzende des Gesundheitsausschusses des Bundestags, Erwin Rüddel (CDU), rechnet aber erst mit einer vollständigen Normalisierung des alltäglichen Lebens ab März 2022.