Berlin. Großereignisse wie die Fußball-EM, die Tour de France und die Olympischen Spiele in Japan könnten die Ausbreitung von Corona befeuern.

Die Sonne lockt, die Cafés sind voll, Reisebüros haben wieder Kundschaft. Corona-Lockerungen, Urlaubslust und die EM-Euphorie hellen derzeit vielerorts die Stimmung auf. Doch mitten in die neue Sorglosigkeit hinein platzt eine Alarmmeldung der Weltgesundheitsorganisation (WHO).

Erstmals seit Langem sei die Zahl der Neuinfektionen in Europa in der vergangenen Woche um zehn Prozent gestiegen, warnte der WHO-Regionaldirektor für Europa, Hans Kluge.

Risiko durch: Reisen, Zusammenkünfte und Lockerungen

Antreiber ist nicht nur die hoch ansteckende Delta-Variante, die in vielen Ländern wütet. „Reisen, Zusammenkünfte und Lockerungen der sozialen Beschränkungen“ stünden hinter der Trendumkehr, so Kluge. Dem Kontinent drohe eine neue Pandemie-Welle, „es sei denn, wir bleiben diszipliniert“.

Der Impfschutz sei bei Weitem noch nicht ausreichend. In Europa und Zentralasien liege die Quote bei nur 24 Prozent. „Das ist weit weg von der empfohlenen Abdeckung von 80 Prozent der erwachsenen Bevölkerung“, rügte der WHO-Mann.

Volles Haus: Beim EM-Achtelfinal-Sieg von England über Deutschland feierten 45.000 Zuschauer im Londoner Wembley-Stadion.
Volles Haus: Beim EM-Achtelfinal-Sieg von England über Deutschland feierten 45.000 Zuschauer im Londoner Wembley-Stadion. © dpa | Christian Charisius

Zunahme der Neuinfektionen

Vor allem Länder wie Portugal, Spanien und Großbritannien haben derzeit mit einer Zunahme der Neuinfektionen zu kämpfen. In Portugal wurden die Urlaubshochburgen Lissabon und Algarve über Nacht zum Hochrisikogebiet. Es gab in beiden Fällen mehr als 250 Neuansteckungen pro 100.000 Einwohner binnen einer Woche.

Auch in Spanien stieg die Sieben-Tage-Inzidenz steil an. Auf der Ferieninsel Mallorca vervierfachte sich die Zahl in kurzer Zeit auf mehr als 70 – unter anderem durch Partyexzesse. In der Urlaubsregion Katalonien mit der Costa Brava betrug der Wert zuletzt 173.

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Abwärtsdynamik in Deutschland abgeschwächt

Die russischen Gesundheitsbehörden registrierten am Freitag 23.218 Neuinfektionen, das ist der höchste Stand seit Mitte Januar. In Deutschland fiel die Inzidenz am Freitag zwar leicht auf 5,0. Doch die Zahlen scheinen sich auf einem Plateau einzupendeln. Die Abwärtsdynamik hat sich abgeschwächt.

Nicht nur die neue Lockerheit ist eine Einladung an das Virus. Auch sportliche Großereignisse wie derzeit die Fußball-EM, die Tour de France oder bald die Olympischen Spiele in Japan könnten eine neue Welle auslösen. Beim Achtelfinalspiel Deutschland gegen England drängten sich 45.000 zumeist britische Fans im Londoner Wembley-Stadion. Ausgelassen feierten sie den Sieg über das deutsche Team.

Doch nicht nur das Match selbst sorgt für Gefahren. „Wir müssen viel weiter schauen als nur auf die Stadien“, sagte die Notfall-Beauftragte der WHO Europa, Catherine Smallwood. Auch die Anreise der Fans etwa in Bussen und ihre Feiern in Lokalen müssen bedacht werden.

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    Dritte Covid-19-Welle rollt über Großbritannien

    In den vergangenen Wochen wurden bereits Hunderte Corona-Infektionen unter EM-Stadionbesuchern registriert. Etwa bei Schotten nach ihrer Rückkehr aus London und bei Finnen aus St. Petersburg. Trotz der aktuell starken Ausbreitung der Delta-Variante in den beiden Städten fand das EM-Viertelfinale Schweiz gegen Spanien am Freitag in St. Petersburg statt. In das 68.000 Zuschauer fassende Stadion wurden 34.000 Fans eingelassen.

    Bei der Viertelfinal-Partie Tschechien gegen Dänemark an diesem Sonnabend im aserbaidschanischen Baku sind 35.000 Besucher erlaubt. Zur Begegnung England gegen Ukraine in Rom werden 15.000 Fußballanhänger erwartet.

    Der absolute Höhepunkt ist für London reserviert: Dort finden die beiden Halbfinalspiele und das Endspiel am 11. Juli statt – mit jeweils 60.000 Zuschauern im Wembley-Stadion. Dabei rollt gerade die dritte Covid-19-Welle über Großbritannien. Derzeit werden mehr als 25.000 Neuinfektionen pro Tag gemeldet, so viele wie zuletzt Ende Januar.

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    Falsche Botschaft: Die Gefahr ist vorüber

    Viele Wissenschaftler halten die Massenveranstaltungen für leichtsinnig. Psychologe Stephen Reicher von der Universität St. Andrews, der auch im Covid-19-Beraterstab der Regierung sitzt, mahnt: „Indem wir die Spiele für 60.000 Fans öffnen, ohne die Risiken zu erwähnen, senden wir eine Botschaft an 60 Millionen Fans, dass die Gefahr vorüber ist.“

    Die Tour de France, die seit dem 26. Juni durch Frankreich rollt, hat nicht das Massenpublikum der Fußball-EM. Zudem haben die Organisatoren den Andrang am Straßenrand gezügelt. Es sind dieses Mal nicht Zehntausende wie in den Jahren vor der Pandemie, sondern nur Tausende Zuschauer, die den vorbeisausenden Radsportlern zujubeln. Viele, aber nicht alle, tragen eine Maske.

    Dicht gedrängt: Bei der Tour de France stehen Tausende Anhänger an der Rennstrecke. Nicht alle tragen Masken.
    Dicht gedrängt: Bei der Tour de France stehen Tausende Anhänger an der Rennstrecke. Nicht alle tragen Masken. © AFP | PHILIPPE LOPEZ

    In Frankreich fast alle Beschränkungen aufgehoben

    Obwohl die Inzidenz in Frankreich mittlerweile auf 18 gefallen ist, so gut wie alle Corona-Einschränkungen aufgehoben wurden, herrscht bei der Tour ein strenges sanitäres Protokoll. An den Start-Zeremonien und den Zieleinläufen mit ihren Siegerehrungen dürfen maximal 4000 Menschen teilnehmen.

    Diese müssen einen PCR-Test oder eine Impfbescheinigung vorweisen. Gruppen mit mehr als zehn Personen sind verboten. Bislang ist noch keine Häufung von Neuinfektionen im Zusammenhang mit der Tour bekannt geworden.

    Premierminister: Spiele auch ohne Zuschauer

    Ein weiteres Sport-Großereignis in diesem Jahr, die Olympischen Sommerspiele in Japan (23. Juli bis 8. August), ist hoch umstritten. Vor knapp zwei Wochen verkündeten die Tokioter Organisatoren, dass die Spielstätten nicht leer bleiben sollen: Bis zu 10.000 Besucher oder eine Auslastung von 50 Prozent pro Stadion sind demnach erlaubt.

    Weitere Informationen: Wie wirksam sind die Corona-Impfstoffe gegen die Delta-Variante?

    Nun rudert man aber offenbar zurück. „Olympia wird auf zuschauerlos angepasst“, spekulierte das Massenblatt „Yomiuri Shinbun“ am Freitag. Premierminister Yoshihide Suga hatte zuvor eingeräumt: „Ich habe schon gesagt, dass es die Möglichkeit gibt, die Spiele auch ohne Zuschauer abzuhalten.“

    Delta in Japan schon auf dem Vormarsch

    Zuletzt warnte der Virologe Shigeru Omi, Chef der Corona-Taskforce von Japans Regierung, dass Olympia überhaupt nicht stattfinden solle. Die Pandemie hat Japan bislang allerdings nur milde getroffen. Bei einer Bevölkerung von 126,5 Millionen gab es 800.000 Infektions- und 15.000 Todesfälle.

    Aber seit einigen Tagen steigt die Zahl der Neuansteckungen wieder. Der Trend könnte bald noch weiter nach oben gehen. Der sanfte Lockdown, der seit April über die größten Metropolen verhängt wurde, soll kurz vor Beginn der Olympischen Spiele aufgehoben werden. Und Delta ist schon auf dem Vormarsch.