Berlin. Ist Deutschland für eine zweite Corona-Welle gewappnet? Die Behörden schlagen wegen der Zahlen Alarm. Und kommen nicht hinterher.

  • Wie gut ist Deutschland für eine zweite Corona-Welle gerüstet? Das RKI warnte unter der Woche bereits vor steigenden Zahlen
  • Deutschland kommt der Marke von täglichen 1000 Corona-Neuinfektionen immer näher
  • Für die Gesundheitsämter bedeuten viele Fälle auch viel Arbeit: Steigen die Zahlen weiter, könnte es nicht mehr zu schaffen sein
  • Ein Mitarbeiter des Gesundheitsamts kann pro Stunde 20 Quarantänefälle kontrollieren

Die Fallzahlen steigen. Überall in Deutschland treiben gerade Feierlustige und Reiserückkehrer die Infektionskurve wieder in die Höhe.

Die 1000-Fälle-Marke bei den Neuinfektionen ist keine böse Ahnung mehr, sondern reale Bedrohung: Am Donnerstag meldete das Robert-Koch-Institut (RKI) 902 neue Corona-Fälle innerhalb eines Tages. Die Folge: Dort, wo sich am Ende entscheidet, ob das Land diese zweite Welle stemmen kann, in den über 400 Gesundheitsämtern, schlagen jetzt die Ersten Alarm. Tenor: „Wir schaffen das nicht.“ Aktualisierung vom 22. August: Dramatischer Anstieg der Corona-Zahlen in Deutschland - Behörden warnen.

Corona-Ausbruch nach einer Restauranteröffnung

Mechthild Schäpker klingt tief besorgt. Die stellvertretende Amtsärztin im ostfriesischen Landkreis Leer hat Erfahrungen mit plötzlichen, massiven Corona-Ausbrüchen. Hier, im äußersten Nordwesten Deutschlands, war es Mitte Mai nach einer Restauranteröffnung unmittelbar nach dem Ende des Lockdowns zu einem Corona-Ausbruch gekommen – mehr als 200 Menschen mussten damals in Quarantäne. Lesen Sie: Nach deutlich gestiegenen Corona-Zahlen spricht das RKI eine Warnung aus.

Die Medizinerin macht seit jenen Tagen im Mai eine einfache Rechnung auf: Ein Mitarbeiter des Gesundheitsamts kann pro Stunde 20 Quarantänefälle kontrollieren. Kann anrufen, nach Fieber und Husten fragen, an die Regeln erinnern. Bei ein, zwei Infektionsherden vor Ort ist das zu stemmen. Doch was, wenn es nicht einen Infektionsherd gibt – sondern Dutzende?

„Infektionszahlen machen mir große Sorgen“

Während der ersten Welle hatte Schäpker fünf zusätzliche Helfer – vier Vollzeitkräfte vom Medizinischen Dienst der Kassen und einen Containment-Scout des RKI. Alle fünf werden aber nur noch kurze Zeit in Leer sein.

„Die steigenden Infektionszahlen machen mir deswegen große Sorgen“, sagt Schäpker am Telefon. „Anders als im Lockdown muss man ja derzeit bei einer infizierten Person nicht nur einige wenige, sondern unter Umständen 100 Kontakte verfolgen. Das ist ohne zusätzliches Personal kaum zu schaffen. Ich fürchte, dass wir im Herbst in Schwierigkeiten kommen.“ Lesen Sie hier: In diesen Ländern wachsen neue Corona-Hotspots heran.

Zweite Welle: Teams in deutschen Gesundheitsämtern sind entscheidend

Schäpker ist nicht so bekannt wie der Virologe Christian Drosten oder der RKI-Chef Lothar Wieler. Doch es sind gerade diese unbekannten Teams in den deutschen Gesundheitsämtern, die darüber entscheiden, ob das Land die anrollende zweite Pandemiewelle bewältigt.

Ute Teichert weiß das. Und sie weiß auch, dass es eng wird. Die Medizinerin ist Vorsitzende des Bundesverbands der Ärztinnen und Ärzte des öffentlichen Gesundheitsdienstes, sie kennt die Lage im Land. „Für eine zweite Pandemie-Welle sind die Gesundheitsämter viel zu knapp besetzt“, warnt Teichert im Gespräch mit unserer Redaktion.

Gesundheitsämter: Ein Drittel der ärztlichen Stellen sind weggefallen

Das hat mehrere Gründe. Erstens: In den letzten 20 Jahren ist ein Drittel der ärztlichen Stellen weggefallen. Viele der Posten sind schwer nachzubesetzen, weil Ärzte im öffentlichen Dienst deutlich schlechter bezahlt werden als etwa in Kliniken oder in der Forschung. Die Stellen in den Gesundheitsämtern sind deswegen für viele Mediziner unattraktiv.

„Damit sich das ändert, muss im Rahmen des Pakts für den öffentlichen Gesundheitsdienst eine deutliche Gehaltsverbesserung erreicht werden“, fordert Teichert. Den Pakt hatte die Bundesregierung im Frühjahr im Zuge der Corona-Konjunkturhilfen angekündigt.

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    Gesundheitsminister wollen Personal bundesweit erfassen

    Die Gesundheitsminister der Länder sollen nun bis zum 30. August einen Entwurf vorlegen. Geplant ist erstmals eine bundesweite Erfassung des Personals in den Gesundheitsämtern – und eine Verstärkung der Personaldecke vor Ort. Zudem sollen die Gesundheitsämter technisch und digital fit gemacht werden.

    „Wir begrüßen den Pakt grundsätzlich“, sagt Teichert, „doch bislang ist davon noch nichts vor Ort angekommen.“ In diesem Jahr würden die Gesundheitsämter davon auch noch nichts spüren. In Leer, zum Beispiel, sind mehrere Planstellen versprochen. Doch bis die besetzt sind und die neuen Kollegen ausgebildet – das dauert.

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    Corona-Hilfskräfte sind nicht mehr an Bord

    Zweitens: In der ersten Welle der Pandemie haben Tausende freiwillige Hilfskräfte die Mitarbeiter unterstützt – unter anderem Studenten, Verwaltungsfachleute, Bundeswehrsoldaten, Mitarbeiter des Medizinischen Dienstes der Kassen, aber auch pensionierte Ärzte. Die allermeisten sind aber nicht mehr an Bord – weil viele längst wieder zu ihren bisherigen Stellen zurückgekehrt sind, so wie demnächst auch im Gesundheitsamt in Leer.

    Drittens: In der ersten Corona-Welle im Frühjahr, berichtet Teichert, hätten viele Gesundheitsämter auf einen Rund-um-die-Uhr-Betrieb umgestellt. Dadurch seien zahllose Überstunden entstanden, die auch mal abgebaut werden müssen. „Viele Ämter sind deswegen derzeit noch dünner besetzt als sonst.“

    Reiserückkehrer steigern Belastungen zusätzlich

    Viertens: Die Belastungen steigen weiter – allein durch die Reiserückkehrer, aber auch durch immer mehr Fälle, bei denen die Infektionsketten nicht mehr klar zu bestimmen sind.

    Teichert nennt ein Beispiel: „Sie haben in einem Kreis zehn Leute mit positivem Test – und diese zehn Menschen haben auf den ersten Blick nichts gemeinsam, keine Feier, keine Reise, keine Familie. Das heißt, sie müssen zehn Infektionsketten verfolgen. In einem großen Gesundheitsamt wie in Köln oder Frankfurt lässt sich das vielleicht noch stemmen, doch in einem Kreis, wo vielleicht zwei Amtsärzte sitzen?“

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    Dazu komme die große Verantwortung der Amtschefs: „Sie müssen sich als Leiter des Gesundheitsamts ja auch fragen: Muss ich jetzt abriegeln? Und wenn ja, was eigentlich? Sie wissen ja erst mal nicht, wie es überhaupt zu den Ansteckungen kam.“

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    Infektionszahlen lassen Schlimmes befürchten

    Die zweite Welle wird nicht nur in den Arztpraxen und in den Kliniken spürbar werden, sondern in ihrer ganzen Wucht auch in den Gesundheitsämtern landen: „Mit den steigenden Infektionszahlen rollt ein riesiges Problem auf uns zu“, sorgt sich Teichert.

    Die Amtsärzte könnten nicht warten, bis die geplanten Maßnahmen der Regierung in Kraft träten. „Wir brauchen eine kurzfristige Lösung. Wir müssen wissen, wo die Gesundheitsämter im Notfall Verstärkung bekommen.“

    Corona: Freiwillige sollen bei zweiter Welle schnell aktiviert werden

    Dr. med. Ute Teichert, Vorsitzende des Bundesverbands der Ärztinnen und Ärzte des Oeffentlichen Gesundheitsdienstes.
    Dr. med. Ute Teichert, Vorsitzende des Bundesverbands der Ärztinnen und Ärzte des Oeffentlichen Gesundheitsdienstes. © p | dpa Picture-Alliance / Eventpress Stauffenberg

    Teichert hat auch schon eine Idee: „Um für eine zweite Welle gerüstet zu sein, brauchen wir ein bundesweites Freiwilligen-Register. Eine Art Jobbörse, die im Ernstfall Mitarbeiter vermittelt, die bereits geschult sind und sich im Thema auskennen.

    Das können Studierende sein, die schon in der ersten Welle als Containment-Scouts ausgebildet wurden, aber auch Beschäftigte aus anderen Bereichen des Gesundheitswesens, die flexibel einsetzbar sind.“

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    Mechthild Schäpker in Leer hat dafür gesorgt, dass 40 der 65 Mitarbeiter des Gesundheitsamts inzwischen Kontakte zurückverfolgen können, die „Containment“-Strategie kennen, die Eindämmungsmethoden. Im Notfall kann so auch der zahnärztliche Kollege oder die Kinderarzt seine Aufgaben liegen lassen und bei der Pandemiebekämpfung helfen. Damals, im Mai, haben sie es gut hingekriegt. Doch da gab es eben auch nur eine einzige Infektionskette.

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