Berlin. Die Inzidenz stagniert, Experten warnen vor einem sorglosen Umgang mit der Pandemie. Reiserückkehrer könnten eine neue Welle auslösen.

  • Die Corona-Zahlen sinken in Deutschland, auch die Sieben-Tage-Inzidenz geht immer stärker zurück
  • Selbst Politiker wie Karl Lauterbach rechnen damit, dass es im Sommer mehr Freiheiten gibt
  • Allerdings warnen Experten: Durch Urlauber könnte eine neue Corona-Welle ausgelöst werden

Sonnenbrille aufsetzen, Maske abnehmen – das ist der Reflex in diesem Frühsommer: In den Fußgängerzonen drängeln sich wieder die Flaneure, nur wenige denken noch ans Abstandhalten und Maskentragen, in vielen Regionen ist Shoppen ohne Test und Termin wieder möglich. Auch bei Restaurants, Hotels und Clubs lockern die Länder gerade im Rekordtempo – und treiben damit vielen Vorsichtigen Schweißperlen auf die Stirn. Geht das gut – oder machen wir gerade dieselben Fehler, die schon nach dem letzten Sommer die Fallzahlen wieder in die Höhe schnellen ließen?

„Wir müssen den Sommer nutzen, um die Infektionsraten weiter zu senken“, sagt Lothar Wieler, Chef des Robert Koch-Instituts. „Jetzt nicht übermütig werden, es gibt weltweit viele Beispiele, wo doch noch mal was schiefgegangen ist.“ Man sollte deswegen immer mindestens zwei Wochen warten, bis der nächste Öffnungsschritt gegangen werde, heißt es unisono bei RKI und Bundesregierung.

Corona: Abwärtstrend der Zahlen stagniert bereits

Was Fachleute aktuell zur Vorsicht mahnen lässt, ist dies: Nachdem die Sieben-Tage-Inzidenz in den vergangenen Wochen steil gesunken war, scheint der Abwärtstrend im bundesweiten Durchschnitt jetzt vorläufig gestoppt.

  • Laut RKI stieg die Inzidenz am Mittwoch den zweiten Tag in Folge; der Wert lag am Morgen bei 36,8 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner, am Vortag waren es 35,2 Fälle.
  • Alarmiert ist das RKI nicht: Der leichte Anstieg sei angesichts der Öffnungsschritte zu erwarten gewesen, sagt Wieler.
  • Bei kontrollierten Lockerungen jedenfalls sei zunächst nicht mit einem erneuten exponentiellen Wachstum zu rechnen.

SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach erwartet, dass die Sieben-Tage-Inzidenz sich in den nächsten Tagen bei einem Wert von rund 35 einpendeln wird. „Danach wird sie weiter sinken“, sagte Lauterbach unserer Redaktion. Die Öffnungsschritte führten zwar zu mehr Infektionen, gleichzeitig aber seien immer mehr Menschen durch Impfungen geschützt. Rund 44 Prozent der Deutschen haben bereits mindestens eine Schutzimpfung bekommen, knapp 20 Prozent sind vollständig geimpft. Hinzu komme, dass sich vieles jetzt draußen abspiele – das senke ebenfalls das Infektionsrisiko.

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Mutationen könnten für eine vierte Welle sorgen

Doch die günstige Lage kann sich wieder ändern, Mutationen können für neue Wellen sorgen. Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) bereitet sich im Gegensatz zum Vorjahr daher bereits jetzt auf eine mögliche weitere Welle mit wieder rasant steigenden Infektionszahlen vor. In diesem Jahr wolle er schon früher mit dem RKI und weiteren Experten Risiken besprechen und Strategien zur Vermeidung einer vierten Welle durchgehen, so Spahn am Mittwoch im ZDF.

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Die Sensibilität dafür habe auch damit zu tun, dass sich die Lage im vergangenen Jahr nach einem Sommer mit niedrigen Inzidenzen im September und Oktober schlagartig verschlechtert habe. „Die Stimmung ist gerade zu Recht gut, die Inzidenzen sind niedrig, die Impfzahlen sind hoch, aber wir sehen in Ländern wie dem Vereinigten Königreich: Es kann auch schnell wieder schiefgehen.“

Damals wie heute sehen Experten die größten Infektionsgefahren dort, wo sich viele Menschen in geschlossenen Räumen begegnen: „Partys machen ist das, wo sich das Virus verbreitet“, fasst es Spahn zusammen. Gelegenheit dazu gibt es jetzt vielerorts. Beispiel Berlin: In der Hauptstadt sind von diesem Freitag an wieder Feiern mit bis zu 100 Teilnehmern in geschlossenen Räumen erlaubt. Findet das Event draußen statt, sind auch 500 Gäste möglich. Lauterbach sieht die Entwicklung mit Sorge: „Dort, wo Partys oder Feiern in geschlossenen Räumen erlaubt sind, muss unbedingt sichergestellt sein, dass alle Teilnehmer geimpft, genesen oder getestet sind.“

Erzeugen Reiserückkehrer demnächst die vierte Welle?

Schwer abzuschätzen dagegen ist die Gefahr, die durch den wieder anziehenden internationalen Tourismus und durch Familienbesuche im Ausland entsteht. Am Ende des vergangenen Sommers hatte das RKI beobachtet, dass sich auf einmal vermehrt Jüngere ansteckten und dass knapp 40 Prozent der Neuinfektionen aus dem Ausland eingeschleppt wurden.

Spahn hatte jüngst noch einmal daran erinnert, dass damals unter den infizierten Rückkehrern vom Westbalkan und aus der Türkei viele Menschen mittleren Alters und Kinder waren, was auf Familienreisen tippen lasse. Bei Kroatien oder Spanien seien dagegen eher jüngere Erwachsene, also die klassischen Partytouristen betroffen gewesen.

Größere Mobilität dürfte auch in diesem Sommer für das Infektionsgeschehen eine Rolle spielen: „Die indische Mutante wird sich wahrscheinlich in den kommenden Monaten in zahlreichen europäischen Ländern ausbreiten“, warnt Lauterbach. Der Sommertourismus könnte sie schnell über den Kontinent verteilen. „Durch Reiserückkehrer wird sich die Mutante spätestens im Herbst auch in Deutschland großflächig ausbreiten.“ Das Ausmaß sei allerdings noch unklar. Aber: „Wir müssen davon ausgehen, dass am Ende dieses Sommers deswegen eine neue Infektionswelle drohen könnte.“