Berlin. Die gesetzlichen Krankenkassen wollen durch die Corona-Krise entstandene Mehrkosten übernehmen. Der Pflege-TÜV wird vorerst ausgesetzt.

Die alte Dame ist leicht dement, lebt aber noch in ihrer Wohnung. Dreimal in der Woche kommt der Pflegedienst, um nach dem Rechten zu schauen, am Wochenende kommen die Söhne der 75-Jährigen, mit ihren Familien. Bis vor wenigen Wochen war das ganz normaler Pflegealltag in Deutschland.

Dann kam Corona und änderte alles. In der Altenpflege zeigen sich die Folgen der Krise wie unterm Brennglas: Besonders gefährdete Menschen, besonders belastete Pfleger, Angehörige auf Abstand, Versorgungslücken und schleppendes Krisenmanagement. Wie lassen sich knapp vier Millionen Pflegebedürftige gut versorgen und vor Ansteckung schützen? Was tut der Staat, um den 1,1 Millionen Pflegekräften zu helfen?

Pflege-TÜV ist ausgesetzt, um die Krise bewältigen zu können

Pflege heißt Körperkontakt. In der Pflege kann niemand Abstand halten, die sozialen Kontakte reduzieren oder gar ins Homeoffice wechseln. Im Gegenteil. Erkrankt ein Pflegebedürftiger oder eine Pflegekraft an Corona, gibt es in der Regel zahllose unmittelbar gefährdete Kontaktpersonen. So wie im Fall des über 80-jährigen Heimbewohners aus der Region Heilbronn, der sich bei einem Pfleger angesteckt hatte. In der Folge wurden acht weitere Bewohner des Pflegeheims, fünf Personen in der Tagespflege und vier Mitarbeiter positiv auf das Coronavirus getestet.

Die Gesundheitsämter müssen in solchen Fällen abwägen. Sicher ist: Die üblichen Quarantäne-Regeln für unmittelbare Kontaktpersonen würden in der Pflege oft dazu führen, dass komplette Belegschaften ausfallen. Doch wer kümmert sich dann um die anderen Bewohner? Das ist das Dilemma. Die Entscheidung muss derzeit der Amtsarzt vor Ort treffen.

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Die gesetzlichen Krankenkassen wollen den knapp 27.000 Pflegeheimen und Pflegediensten in Deutschland sämtliche Kosten, die durch die Corona-Krise entstehen, erstatten. Heißt: Kein Pflegebedürftiger, kein Angehöriger soll deswegen jetzt mehr zahlen müssen. „Die Pflegeversicherung verfügt über ausreichend Rücklagen, um die Corona-bedingten Mehrkosten auszugleichen“, sagte Gernot Kiefer, Vizevorsitzender des Spitzenverbands der gesetzlichen Krankenkassen (GKV), unserer Redaktion. „Die Finanzierung auch des zusätzlich Notwendigen wird von der Pflegeversicherung unbürokratisch sichergestellt.“

Die Pflegekräfte in Heimen und bei ambulanten Diensten seien „unglaublich gefordert“. Um sich zu schützen, könnten sie aber nicht wie andere Berufsgruppen einfach auf Distanz gehen. Deshalb sei die Schutzausrüstung, also Handschuhe, Atemmasken und auch zusätzliche Desinfektion, enorm wichtig, so Kiefer. „Wir stehen dafür gerade, dass auch das finanziert wird.“

Notwendigkeit, in Krise von Qualitätsstandards abzuweichen

Kiefer kündigte zudem zwei weitere Maßnahmen zur Entlastung der Pflegebranche in der Corona-Krise an: Bei Pflegegeldempfängern sollen vorerst bis Ende September keine kontrollierenden Hausbesuche mehr stattfinden. Auch die Pflegedienste werden vorerst nicht mehr regelmäßig kon­trolliert. Beides soll die Sozialkontakte reduzieren und die Beteiligten von Dokumentationsaufwand entlasten.

Zudem sollen Pflegekräfte in den Tagespflegeeinrichtungen weiter finanziert werden, auch wenn die Einrichtungen geschlossen werden. Die so frei gewordenen Pflegekräfte sollen weiter in der Pflege eingesetzt werden, beispielsweise die Pflege der Heimbewohner unterstützen.

Kiefer verteidigte darüber hinaus die Notwendigkeit, in der Krise von Qualitätsstandards abzuweichen: „Was unter normalen Bedingungen richtig und notwendig ist, muss jetzt hinterfragt werden.“ Deswegen sei der Pflege-Tüv, die regelmäßigen Qualitätsprüfungen durch den Medizinischen Dienst der Kassen, bis Ende September ausgesetzt worden. Hinweisen auf Missstände soll aber weiter nachgegangen werden.

Fachkraftquoten gelten nicht mehr

Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) und der Pflegebevollmächtigte der Bundesregierung, Andreas Westerfellhaus, haben sich am Donnerstag in einer Videokonferenz mit den Pflegeverbänden auf etliche Maßnahmen verständigt, um die Pflege in der Corona-Krise zu entlasten: Die gesetzlich vorgeschriebenen Mindest-Personalschlüssel werden ausgesetzt, auch für die regional unterschiedlichen Fachkraftquoten. Die Vergütung der Heime und Dienste werde deswegen aber nicht gekürzt.

Um das Ansteckungsrisiko zu reduzieren, soll bei Menschen, die jetzt pflegebedürftig werden, der Grad der Pflegebedürftigkeit nicht mehr zu Hause festgestellt werden, sondern anhand der vorliegenden Diagnose und eines Telefon- oder Video-Gesprächs. Die mehr als 4000 Ärzte und Pfleger des Medizinischen Dienstes der Krankenkassen sollen den öffentlichen Gesundheitsdienst unterstützen. Wenn Pflegeheime wegen infizierter Bewohner oder Pflegekräfte Probleme bekommen, müssen sie dies künftig den Pflegekassen melden. Über diesen Weg soll dann auch Ersatz organisiert werden.

Spahn: „Ich kann nur um Verständnis bitten“

Besuchsstopp oder stark eingeschränkte Besuchszeiten zum Schutz der Heimbewohner – überall in Deutschland versuchen die Einrichtungen auf diese Weise Infektionen zu verhindern. Im Kreis Heinsberg, dem ersten deutschen Epidemiezentrum, haben sie nun schon länger Erfahrung damit.

Pfleger berichten dort, dass vor allem stark demente Bewohner unter der Abschottung leiden. Also jene Heimbewohner, die nicht verstehen, was das Coronavirus überhaupt ist – warum der Sohn, die Enkelin, die Schwester sie nicht mehr besuchen. Viele würden unruhig, manche auch aggressiv. Auch die Angehörigen leiden in solchen Lagen.

Spahn weiß das – sieht aber keine Alternative: „Ich kann nur um Verständnis bitten.“ Mehr noch: „Das wird nicht nur Wochen gehen, das wird viele Monate so gehen.“ Um Alte und Kranke vor dem Virus zu bewahren, würden demnächst konkrete und vor allem längerfristige Schutzkonzepte für Heime und ambulante Dienste entwickelt und eingeführt. „Das Virus ist da und es bleibt da.“

Bei den Kassen denken sie bereits über die langfristigen Folgen nach: Durch den psychischen Stress, unter den die Bewohner durch den Besuchsstopp kommen, kann es zu Verschlechterungen des Gesundheitszustands, zu psychosomatischen Reaktionen und Demenzschüben kommen. Familienministerin Franziska Giffey (SPD) warb dennoch um Verständnis für die rigorosen Besuchsregelungen: „Nur so können die Pflegebedürftigen und ihre Angehörigen in der derzeitigen Situation geschützt werden.“

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