Berlin. Der demokratische US-Präsidentschaftsbewerber Joe Biden gibt den Oberpastor der Nation. Doch sein Vorsprung in den Umfragen schmilzt.

Er spricht sanft, bewegt sich langsam, blickt mitfühlend in die Runde. In einer Kirche in Kenosha sind nur wenige geladene Gäste. Der demokratische Präsidentschaftsbewerber Joe Biden ist an jenem Donnerstag der Oberpastor der Nation. Wenige Tage zuvor war der Afroamerikaner Jacob Blake in der Stadt im US-Bundesstaat Wisconsin von Polizisten siebenmal in den Rücken geschossen worden. Es kam zu Ausschreitungen.

Biden mahnt die US-Bürger, sich der „Ursünde“ Amerikas zu stellen, dem Rassismus. Kenosha brauche Heilung, das Land Versöhnung. Biden trägt die ganze Zeit eine Corona-Maske. Später spenden er und seine Frau Jill der Familie Blakes anderthalb Stunden lang Trost.

Der 77-Jährige versucht, bedächtig, überlegt, empathisch rüberzukommen. Präsidial will er wirken in einem Land, das politisch aufgewühlt, gespalten, polarisiert ist wie nie zuvor. Jeder Schritt, jede Geste ist wie ein Gegen-Programm zum Amtsinhaber Donald Trump.

USA: Trump gibt den Brandstifter und zugleich die Feuerwehr

Am gleichen Tag tritt Trump in einem Flughafen im Bundesstaat Pennsylvania vor zum Teil dicht gedrängten Anhängern auf. Er redet laut, verspricht weitere vier Jahre seiner Politik „Amerika zuerst“. Sein Mantra: „Bei dieser Wahl geht es um Sicherheit. Bei dieser Wahl geht es um Jobs.“

Trump greift Biden unter dem Jubel seiner Fans massiv an. „Haben Sie jemals einen Mann gesehen, der so gerne eine Maske trägt wie er?“, fragt er zum Gelächter der Menge. Und dann lasse er auch noch die Maske von einem Ohr herunterhängen – weil sie ihm das Gefühl von Sicherheit gebe, behauptet Trump. „Wenn ich ein Psychiater wäre, würde ich sagen, der Junge hat eine Menge Probleme.“

Der Präsident schimpft gegen die „radikale Linke“ in den von Demokraten regierten Städten. Er warnt vor „Chaos“, „Anarchie“, der „Herrschaft des Mobs“. Poltern, klotzen, beleidigen: kein Wort zu den exzessiven Aktionen der Polizei gegen Farbige. Keine Verurteilung von tödlichen Schusswaffeneinsätzen rechtsextremer Milizen.

Trump genießt seine Dampfhammer-Rhetorik und seinen Bulldozer-Stil, was das politische Klima noch mehr aufheizt. Und er zelebriert sich als Hüter von Recht und Ordnung. Er gibt den Brandstifter und zugleich die Feuerwehr.

Donald Trump am Donnerstagabend in Maryland.
Donald Trump am Donnerstagabend in Maryland. © AFP | MANDEL NGAN

Trump will Motivation der demokratisch gesinnten Wähler schwächen

Hinzu kommen Trumps Vorstöße, Zweifel am korrekten Ablauf der Präsidentschaftswahl am 3. November zu säen. Vor allem die Briefwahl sei anfällig für „Manipulationen“, sagt er. Damit will er die Motivation der Wähler schwächen, die mit den Demokraten sympathisieren. Zum anderen vermuten Beobachter, dass der Präsident bei einer Niederlage versuchen könnte, trotzdem im Amt zu bleiben.

Am Mittwoch sorgte Trump mit der Aufforderung für Wirbel, zweimal abzustimmen – einmal per Briefwahl und dann noch mal im Wahllokal. Dies wäre illegal. Später ruderte der Präsident zurück: Sollte jemand im Wahllokal feststellen, dass sein Briefwahl-Votum nicht registriert sei, solle er vor Ort abstimmen.

Facebook und Twitter versahen Trumps Appell zur doppelten Stimmabgabe mit distanzierenden Hinweisen. In seiner Anmerkung zur Botschaft des Präsidenten hob Facebook am Donnerstag hervor, dass die Briefwahl in den USA von unabhängigen Experten als „verlässlich“ angesehen werde. Dies gelte auch für die bevorstehende Wahl.

Twitter bezeichnete Trumps Appell als Verstoß gegen die Nutzerregeln zur „staatsbürgerlichen Integrität“. Mehrere US-Bundesstaaten wiesen die Ermunterung zur doppelten Stimmabgabe als gesetzeswidrig zurück.

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North Carolina: Bidens hat nur noch 0,6 Prozentpunkte Vorsprung

Der Haudrauf-Kurs scheint Trump nicht zu schaden. In heftig umkämpften Bundesstaaten („battleground states“) schrumpft der Vorsprung von Biden. Trumps desaströses Corona-Management und der Einbruch der Wirtschaft hatten ihn nach vorn katapultiert.

Nach Angaben der unabhängigen Website realclearpolitics.com, die Durchschnittswerte von verschiedenen Meinungsumfragen ermittelt, liegt Biden in North Carolina nur noch mit 0,6 Prozentpunkten vorn. In Michigan sind es demnach 2,6 Punkte und in Florida 3,3 Punkte.

Nicht nur Hillary Clinton, die vor der Wahl 2016 in vielen Umfragen deutlich vor Trump rangierte, dürfte der berühmte Spruch der amerikanischen Baseball-Legende Yogi Berra einfallen: „It ain’t over till it’s over“ – auf Deutsch: „Es ist nicht vorbei, bis es vorbei ist.“