Rom. Der emeritierte Papst Benedikt gibt außerkirchlichen Entwicklungen die Schuld am Missbrauchskandal der Kirche – so auch den 68ern.

Wer ist Schuld am Missbrauch in der katholischen Kirche? Der emeritierte Papst Benedikt XVI. hat sich zu dieser Frage jetzt zu Wort gemeldet und kommt mit einer Aufsehen erregenden Erklärung daher: Die sexuelle Revolution der 68er Jahre und die Säkularisierung der westlichen Gesellschaft macht er für den sexuellen Missbrauch von Kindern verantwortlich.

Theologen kritisieren den Aufsatz des früheren Katholiken-Oberhauptes, der am Donnerstag unter anderem von dem katholischen Nachrichtennetzwerk CNA veröffentlicht wurde. Darin heißt es, Benedikt habe den Text nach Rücksprache mit dem amtierenden Papst Franziskus für das bayerische „Klerusblatt“ geschrieben. Der Vatikan äußerte sich dazu zunächst nicht.

Immer wieder sorgt Papst Benedikt XVI. Aufsehen

Wenige Tage vor seinem 92. Geburtstag sorgt der gebürtige Bayer mal wieder mit einer Veröffentlichung für Aufsehen. Seit seinem spektakulären Rücktritt als Papst im Jahr 2013 lebt er zurückgezogen hinter den Vatikan-Mauern und hatte damals versprochen, „für die Welt verborgen“ zu bleiben. Doch daran hält er sich nicht.

Sein Aufsatz erscheint in einer Zeit, in der sein Nachfolger unter einem enormen Druck steht. Die Missbrauchskandale in Ländern wie Deutschland, Chile und den USA haben nicht nur die katholische Kirche, sondern auch Franziskus’ Pontifikat in eine Krise gestürzt. Vor eineinhalb Monaten hatte der Argentinier deshalb die Bischöfe aus aller Welt zu einem Gipfel in den Vatikan eingeladen.

Benedikt XVI. – Sein Leben in Bildern

Joseph Ratzinger schrieb Kirchengeschichte, als er am 19. April 2005 vom Konklave zum ersten deutschen Papst seit 500 Jahren gewählt wurde. Wir zeigen sein Leben in einer Fotostrecke.
Joseph Ratzinger schrieb Kirchengeschichte, als er am 19. April 2005 vom Konklave zum ersten deutschen Papst seit 500 Jahren gewählt wurde. Wir zeigen sein Leben in einer Fotostrecke. © imago | ZUMA Press
Der emeritierte Papst Benedikt wurde am 16. April 1927 als Joseph Alois Ratzinger im bayerischen Marktl am Inn als Sohn eines Gendarmeriemeisters geboren. Während seiner Gymnasialzeit wird Ratzinger gegen Ende des Zweiten Weltkriegs als Luftwaffenhelfer eingesetzt.
Der emeritierte Papst Benedikt wurde am 16. April 1927 als Joseph Alois Ratzinger im bayerischen Marktl am Inn als Sohn eines Gendarmeriemeisters geboren. Während seiner Gymnasialzeit wird Ratzinger gegen Ende des Zweiten Weltkriegs als Luftwaffenhelfer eingesetzt. © imago | ZUMA Press
Diese Aufnahme zeigt Ratzinger mit seiner Schwester Maria (l.), seinem Bruder Georg, seiner Mutter Maria und seinem Vater Joseph.
Diese Aufnahme zeigt Ratzinger mit seiner Schwester Maria (l.), seinem Bruder Georg, seiner Mutter Maria und seinem Vater Joseph. © imago | ZUMA Press
Von 1946 bis 1951 studierte Joseph Ratzinger an der Philosophisch-Theologischen Hochschule von Freising und an der Universität München Philosophie und Theologie.
Von 1946 bis 1951 studierte Joseph Ratzinger an der Philosophisch-Theologischen Hochschule von Freising und an der Universität München Philosophie und Theologie. © Getty Images | German Catholic News Agency KNA
Joseph Ratzinger (r.) und sein Bruder Georg wurden am 29. Juni 1951 zusammen mit 42 anderen jungen Männern im Dom von Freising zu Priestern geweiht.
Joseph Ratzinger (r.) und sein Bruder Georg wurden am 29. Juni 1951 zusammen mit 42 anderen jungen Männern im Dom von Freising zu Priestern geweiht. © dpa | Erzbistum
Auf die im Alter von 31 Jahren im Jahr 1958 angetretene erste Professur für Dogmatik und Fundamentaltheologie an der Philosophisch-Theologischen Hochschule Freising folgten Rufe nach Bonn, Münster, Tübingen und Regensburg. Dieses Foto zeigt den Geistlichen 1959 in seinem Privatbüro in Freising.
Auf die im Alter von 31 Jahren im Jahr 1958 angetretene erste Professur für Dogmatik und Fundamentaltheologie an der Philosophisch-Theologischen Hochschule Freising folgten Rufe nach Bonn, Münster, Tübingen und Regensburg. Dieses Foto zeigt den Geistlichen 1959 in seinem Privatbüro in Freising. © Getty Images | German Catholic News Agency KNA
Von 1962 bis 1965 nahm Ratzinger als theologischer Berater des Erzbischofs von Köln, Kardinal Joseph Frings, am Zweiten Vatikanischen Konzil teil.
Von 1962 bis 1965 nahm Ratzinger als theologischer Berater des Erzbischofs von Köln, Kardinal Joseph Frings, am Zweiten Vatikanischen Konzil teil. © REUTERS | REUTERS / KNA-BILD
Als neuer Erzbischof von München und Freising trug Ratzinger während der Fronleichnamsprozession am 9. Juni 1977 in der Münchner Innenstadt die Monstranz.
Als neuer Erzbischof von München und Freising trug Ratzinger während der Fronleichnamsprozession am 9. Juni 1977 in der Münchner Innenstadt die Monstranz. © dpa | Hartmut Reeh
Am 27. Juni 1977 wurde Ratzinger zum Kardinal ernannt. Papst Paul VI. (l.) steckte ihm während einer Zeremonie im Petersdom im Vatikan als Zeichen seiner neuen Würde den Kardinalsring an.
Am 27. Juni 1977 wurde Ratzinger zum Kardinal ernannt. Papst Paul VI. (l.) steckte ihm während einer Zeremonie im Petersdom im Vatikan als Zeichen seiner neuen Würde den Kardinalsring an. © picture-alliance/ dpa | dpa Picture-Alliance / UPI
Papst Johannes Paul II. ernannte im November 1981 Kardinal Ratzinger zum Präfekten der vatikanischen Glaubenskongregation.
Papst Johannes Paul II. ernannte im November 1981 Kardinal Ratzinger zum Präfekten der vatikanischen Glaubenskongregation. © REUTERS | REUTERS / KNA-BILD
Kardinal Joseph Ratzinger während einer Pressekonferenz im Mai 1986 im Vatikan, auf der er seine Schrift über Freiheit und Befreiung vorstellte.
Kardinal Joseph Ratzinger während einer Pressekonferenz im Mai 1986 im Vatikan, auf der er seine Schrift über Freiheit und Befreiung vorstellte. © dpa | epa ansa
Am 19. April 2005 war es dann soweit. Weißer Rauch entstieg dem Schornstein der Sixtinischen Kapelle in Rom. Ratzinger wurde im vierten Wahlgang zum 265. Papst der römisch-katholischen Kirche gewählt und gab sich den Namen Benedikt.
Am 19. April 2005 war es dann soweit. Weißer Rauch entstieg dem Schornstein der Sixtinischen Kapelle in Rom. Ratzinger wurde im vierten Wahlgang zum 265. Papst der römisch-katholischen Kirche gewählt und gab sich den Namen Benedikt. © Getty Images | Giuseppe Cacace
„Wir sind Papst“!
„Wir sind Papst“! © Getty Images | Carsten Koall
Joseph Ratzinger schrieb Kirchengeschichte.
Joseph Ratzinger schrieb Kirchengeschichte. © Getty Images | Peter Macdiarmid
Er wurde vom Konklave zum ersten deutschen Papst seit 500 Jahren gewählt.
Er wurde vom Konklave zum ersten deutschen Papst seit 500 Jahren gewählt. © dpa | Ettore Ferrari
Wenige Monate nach seiner Wahl zum Papst feierte Benedikt XVI. in Köln mit Hunderttausenden Teilnehmern den Weltjugendtag auf dem Marienfeld in Kerpen bei Köln.
Wenige Monate nach seiner Wahl zum Papst feierte Benedikt XVI. in Köln mit Hunderttausenden Teilnehmern den Weltjugendtag auf dem Marienfeld in Kerpen bei Köln. © EPA | epa ansa Pier Paolo Cito
Wichtiger Besuch im Mai 2009: Papst Benedikt XVI. an der Klagemauer in Israel in Jerusalem.
Wichtiger Besuch im Mai 2009: Papst Benedikt XVI. an der Klagemauer in Israel in Jerusalem. © dpa | DAN BALILTY
Auch er steckte einen Gebetszettel in eine Spalte der Klagemauer.
Auch er steckte einen Gebetszettel in eine Spalte der Klagemauer. © dpa | epa ansa Cito
Papst Benedikt XVI ging 2006 im Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau durch das Tor mit dem Schriftzug
Papst Benedikt XVI ging 2006 im Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau durch das Tor mit dem Schriftzug "Arbeit macht frei". © dpa | Andrzej Grygiel
Auf seiner Deutschlandreise 2011 stattete er auch dem Bundestag in Berlin einen Besuch ab.
Auf seiner Deutschlandreise 2011 stattete er auch dem Bundestag in Berlin einen Besuch ab. © dpa | Herbert Knosowski
Brüder unter sich: Papst Benedikt XVI. und sein Bruder Georg Ratzinger im Regensburger Vorort Pentling vor seinem Privathaus.
Brüder unter sich: Papst Benedikt XVI. und sein Bruder Georg Ratzinger im Regensburger Vorort Pentling vor seinem Privathaus. © dpa | Daniel Karmann
Glaubensbrüder unter sich: Papst Franziskus (r.) und der emeritierte Papst bei einem Treffen in Castel Gondolfo bei Rom.
Glaubensbrüder unter sich: Papst Franziskus (r.) und der emeritierte Papst bei einem Treffen in Castel Gondolfo bei Rom. © dpa | Osservatore Romano / Handout
Royale Privataudienz im Vatikan: Benedikt empfing den britischen Thronfolger Prinz Charles und seine Frau Camilla.
Royale Privataudienz im Vatikan: Benedikt empfing den britischen Thronfolger Prinz Charles und seine Frau Camilla. © dpa | Chris Helgren
Mit der Gondel ging es im Mai 2011 durch den Canale Grande in Venedig.
Mit der Gondel ging es im Mai 2011 durch den Canale Grande in Venedig. © picture alliance / Stefano Spazi | dpa Picture-Alliance / Stefano Spaziani
Am 11. Februar 2013 kündigte Benedikt XVI. seinen Amtsverzicht an.
Am 11. Februar 2013 kündigte Benedikt XVI. seinen Amtsverzicht an. © dpa | Marcus Brandt
Er trat am 28. Februar 2013 von seinem Amt zurück – er lebte daraufhin weiterhin im Vatikan.
Er trat am 28. Februar 2013 von seinem Amt zurück – er lebte daraufhin weiterhin im Vatikan. © imago stock&people | UPI Photo
In der Folge seines Rücktritts wurde weiter spekuliert, was der Grund für seinen Rücktritt im Februar 2013 war. Benedikt selbst hatte es als „Unsinn“ zurückgewiesen, dass Intrigen und Machtkämpfe im Vatikan der Auslöser dafür waren. Er sei körperlich einfach nicht mehr in der Lage gewesen, die Lasten des Amtes zu tragen.
In der Folge seines Rücktritts wurde weiter spekuliert, was der Grund für seinen Rücktritt im Februar 2013 war. Benedikt selbst hatte es als „Unsinn“ zurückgewiesen, dass Intrigen und Machtkämpfe im Vatikan der Auslöser dafür waren. Er sei körperlich einfach nicht mehr in der Lage gewesen, die Lasten des Amtes zu tragen. © picture alliance / Stefano Spazi | dpa Picture-Alliance / Stefano Spaziani
Der frühere Papst starb am 31. Dezember 2022. Der Leichnam von Papst Benedikt XVI. wurde im Petersdom aufgebahrt.
Der frühere Papst starb am 31. Dezember 2022. Der Leichnam von Papst Benedikt XVI. wurde im Petersdom aufgebahrt. © Imago/Independent Photo Agency Int.
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Benedikt wirft 68er Normlosigkeit vor

Benedikt führt die Krise vor allem auf außerkirchliche Entwicklungen zurück. Er nennt die Liberalisierung der Sexualität und die „Abwesenheit“ von Gott in der heutigen Gesellschaft. Eine Welt ohne Gott sei eine Welt ohne Moral: „Es gibt dann keine Maßstäbe des Guten oder des Bösen.“

Von Machtstrukturen, die Franziskus immer wieder als Grund für Missbrauch anführt, ist nicht die Rede. Die Revolution von 1968 habe „völlige sexuelle Freiheit“ erkämpfen wollen, „die keine Normen mehr zuließ“, schreibt der Ex-Papst. „Zu der Physiognomie der 68er Revolution gehörte, dass nun auch Pädophilie als erlaubt und als angemessen diagnostiziert wurde.“

In den Jahren von 1960 bis 1980 seien „die bisher geltenden Maßstäbe in Fragen der Sexualität vollkommen weggebrochen“ und eine „Normlosigkeit entstanden, die man inzwischen abzufangen sich gemüht hat“. Unabhängig davon habe sich zeitgleich „ein Zusammenbruch der katholischen Moraltheologie ereignet, der die Kirche wehrlos gegenüber den Vorgängen in der Gesellschaft machte“. Erst jetzt erkenne man mit „Erschütterung, dass an unseren Kindern und Jugendlichen Dinge geschehen, die sie zu zerstören drohen“.

Kritiker: „Ein beschämendes Schreiben“

Katholische Theologen äußerten Kritik. Es sei „verblüffend“, „eine freizügige Kultur und progressive Theologie für ein internes und strukturelles Problem verantwortlich zu machen“, erklärte Julie Hanlon Rubio, Professorin an der kalifornischen Privatuniversität Santa Clara, auf Twitter.

Sie bezeichnete Benedikts Analyse als „zutiefst fehlerhaft“ und „zutiefst beunruhigend“. Brian Flanagan, Dozent an der Marymount University im amerikanischen Virginia, twitterte: „Das ist ein beschämendes Schreiben.“ Die Annahme, dass der Missbrauch von Kindern durch Geistliche ein Ergebnis der 1960er Jahre und eines angeblichen Zusammenbruchs der Moraltheologie sei, sei eine „peinliche, falsche Erklärung für den systematischen Missbrauch von Kindern und dessen Verschleierung“.

Die Kirche steckt in der Krise

Während der Amtszeit von Papst Benedikt XVI. war ans Licht gekommen, dass weltweit massenweise Kinder von Geistlichen missbraucht wurden. Papst Franziskus räumte zuletzt ein, dass die Vertuschung der Taten in der Vergangenheit üblich war.

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Papst bittet Missbrauchsopfer um Vergebung

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    Im Zusammenhang mit der Missbrauchskrise wird immer wieder gefordert, die Sexualmoral der Kirche und die Ehelosigkeit der Priester zur Diskussion zu stellen.

    Benedikt aber warnt in seinem Schreiben davor, das Problem mit der Erneuerung der Kirche lösen zu wollen. „Die Krise, die durch die vielen Fälle von Missbrauch durch Priester verursacht wurde, drängt dazu, die Kirche geradezu als etwas Missratenes anzusehen, das wir nun gründlich selbst neu in die Hand nehmen und neu gestalten müssen. Aber eine von uns selbst gemachte Kirche kann keine Hoffnung sein.“ (jb/dpa)