London. 2014 hatten sich die Schotten gegen eine Unabhängigkeit von Großbritannien entschieden. Nun plant die Regierung einen neuen Versuch.

Auf diese Ankündigung hat man lange gewartet – sechs Jahre lang, um genau zu sein. „Ich will heute den Prozess einleiten, der zu einem legalen, konstitutionellen Referendum am 19. Oktober 2023 führt“, sagte Nicola Sturgeon, Erste Ministerin Schottlands und Vorsitzende der Schottischen Nationalpartei (SNP). Damit löst sie ein Versprechen ein, das sie bereits am Tag nach dem Brexit-Referendum im Juni 2016 abgelegt hatte: dass sie eine neue Volksabstimmung über die schottische Unabhängigkeit vorbereiten werde.

Nach endlosen Verzögerungen ist es jetzt endlich so weit. Acht Jahre nach dem verlorenen Referendum bereitet die Regierung in Edinburgh eine zweite Abstimmung vor, bei der die Schotten gefragt werden: „Soll Schottland ein eigenständiges Land sein?“ Damit könnte die Abspaltung vom britischen Königshaus besiegelt werden.

Aber so einfach ist es nicht: Es ist nämlich unwahrscheinlich, dass das Referendum überhaupt stattfinden wird. Das Problem ist die begrenzte Verfügungsgewalt Edinburghs. Damit ein Referendum rechtlich einwandfrei ist, muss es von der Regierung in London abgesegnet werden – aber Boris Johnson hat sich stets geweigert, dies zu tun.

Schottlands Referedum: Sturgeon will auf Nummer sicher gehen

Die Frage sei 2014 mindestens für eine Generation lang geklärt worden, sagt er; für ein neues Referendum gebe es deshalb keine Rechtfertigung. Nach der Ankündigung Sturgeons ließ Downing Street 10 verlauten: „Unsere Position bleibt die gleiche.“

Zwar könnte die schottische Regierung versuchen, auf eigene Faust ein Plebiszit abzuhalten, wie es Katalonien 2017 tat; aber das hat Sturgeon stets zurückgewiesen, sie will lieber auf Nummer sicher gehen. So hat sich Edinburgh für einen dritten Weg entschieden. Am gleichen Tag, als sie die Referendumspläne vorstellte, wandte sich die schottische Regierung an das höchste Gericht Großbritanniens: Der Supreme Court solle entscheiden, ob Edinburgh ohne die Zustimmung Londons ein solches Referendum abhalten darf.

Diese Frage ist noch nie vor Gericht getestet worden. Im Schottland-Gesetz von 1998 heißt es lediglich, dass Angelegenheiten, die „die Union der Königreiche von Schottland und England“ betreffen, im Zuständigkeitsbereich Londons liegen. Die meisten Rechtsexperten in Großbritannien gehen jedoch davon aus, dass der Supreme Court zugunsten Londons entscheiden wird und ein Referendum ohne grünes Licht von Westminster für unzulässig erklärt.

Das weiß auch Nicola Sturgeon – sie hat einen negativen Entscheid des Supreme Court wohl einkalkuliert. Denn auch wenn sie auf dem rechtlichen Weg scheitert, kann sie zumindest sagen, dass sie alles versucht habe. Sie ist in den vergangenen Jahren stark unter Druck geraten von SNP-Aktivisten: Diese warfen ihr Halbherzigkeit vor und forderten sie immer eindringlicher auf, ihr Versprechen eines Referendums endlich einzulösen. Solche Vorwürfe hat sie mit dem jüngsten Vorstoß erst einmal entkräftet.

Es ist unklar, ob eine Mehrheit die Abspaltung von Großbritannien will

Sturgeons Zögern ist verständlich. Umfragen zufolge ist die Unterstützung für die Unabhängigkeit nicht groß genug, um einen Sieg ihrer Befürworter zu garantieren. Im ersten Jahr der Covid-Pandemie gewann die SNP mit ihrer besonnenen Krisenpolitik viel Zuspruch, und damit stieg auch die Unterstützung der Unabhängigkeit.

Aber seit über einem Jahr liegen die Unionisten wieder vorne. In einer solchen Situation, wenn ein Gewinn nicht sicher ist, stellt ein Referendum für die SNP ein großes Risiko dar: Wenn das Resultat ein zweites Mal negativ ausfallen würde, wäre die Frage der Eigenstaatlichkeit für die kommenden Jahrzehnte vom Tisch.

Die SNP hofft denn auch, dass ihr jüngster Schritt der Unabhängigkeitsbewegung neuen Schwung verleihen wird. Wenn sowohl das Londoner Supreme Court wie auch die Regierung in Westminster ein Referendum blockieren, würde dies gerade das Problem aufzeigen: Dass Schottland innerhalb der britischen Union keine Möglichkeit habe, eine eigenständige Politik zu verfolgen.

Sturgeon versuchte gar nicht erst, dieses Kalkül zu verstecken: „Sollte sich herausstellen, dass dieses Parlament keine legale Möglichkeit hat, den Bürgern von Schottland in einem Referendum die Wahl der Unabhängigkeit zu geben“, sagte sie jetzt, „und wenn uns zudem die britische Regierung ein Referendum untersagt, dann wird meine Partei die nächsten Wahlen auf einer einzigen Frage aufbauen: Soll Schottland ein unabhängiges Land sein?“ Die Wahlen werden wahrscheinlich 2024 stattfinden – so hätte die SNP genügend Zeit, um eine Mehrheit der Schotten für die Abspaltung von England zu gewinnen.

Dieser Artikel erschien zuerst auf waz.de.