Berlin. Unter dem Einfluss des Klimawandels droht ein gigantischer Gletscher in der Antarktis zu zersplittern - mit globalen Auswirkungen.

So groß wie das Vereinigte Königreich oder Florida, hunderte Meter dick und sehr kalt: Das ist der Thwaites-Gletscher in der Antarktis, ein riesiges Reservoir von Eis und ein wichtiger Teil des sogenannten west-antarktischen Eisschilds. Doch der Koloss ist bedroht: Forscherinnen und Forscher warnen, dass Teile des Gletschers wegen des Klimawandels instabil werden und brechen könnten, und das schon bald. Es drohe ein drastischer Anstieg des Meeresspiegels.

Schon seit 2018 beobachten Forschende in einem großangelegten britisch-amerikanischen Projekt die Entwicklung des Gletschers. Kurz vor Weihnachten des vergangenen Jahres schlugen sie auf einer Tagung einer Fachgesellschaft, der Amerikanischen Geophysikalischen Union (AGU), Alarm: „Auf jedem neuen Satellitenbild sehen wir tiefere und längere Risse“, sagte Glaziologin Erin Pettit von der Universität Oregon bei der Vorstellung der Ergebnisse. Schon in fünf bis zehn Jahren könnte demnach ein Teil des Gletschers „zersplittern wie die Windschutzscheibe eines Autos“, so die Forschenden in einer Analyse der Situation.

Der Klimawandel spült wärmeres Wasser an die Oberfläche

Konkret geht es um einen Teil des Gletschers, der nicht auf dem Boden des antarktischen Kontinents aufliegt, sondern auf dem Wasser. Dieses Eisschelf wird zerbrechlicher, so die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Internationalen Thwaites Gletscher Zusammenarbeit (engl. International Thwaites Glacier Collaboration, ITGC).

Risse im Eis gebe es zwar schon immer, sagt Sunke Schmidtko, Ozeanograf und Experte für das Südpolarmeer am Helmholtz-Zentrum für Ozeanforschung in Kiel. Doch jetzt entstünden sie schneller und näher am Land.

Denn der Klimawandel sorgt dafür, dass warmes Meerwasser an die Oberfläche kommt, das Eis unterspült und seine Stabilität verringert. „Im antarktischen Meer ist in der Tiefe überall wärmeres Wasser vorhanden“, erklärt Schmidtko. An der Oberfläche habe das Meer im Winter minus 1 bis minus 2 Grad Celsius, im Sommer um die null Grad. „Doch durch die Erderwärmung haben sich die Winde in der Region verändert und bringen nun warmes aus der Tiefe nach oben“, sagt Schmidtko.

Bricht der Gletscher, könnte schnell viel mehr Eis ins Meer fließen

In der Amundsen-See vor dem Gletscher habe man in den vergangenen 30 Jahren eine Temperaturerwärmung von über 0,5 Grad beobachtet. „Das klingt wenig“, sagt Schmidtko, „aber Wasser hat eine gewaltige Wärmekapazität.“ 0,5 Grad wärmeres Wasser habe einen größeren Effekt auf den Gletscher als 20 oder sogar 40 Grad Erwärmung der Luft. „Dieses wärmere Wasser frisst den Gletscher von unten an.“ Das Eis wird instabil und brüchig.

Ein Zersplittern des Eisschelfs könnte Auswirkungen auf die ganze Region haben. Denn etwa ein Drittel des Schelfs auf dem Meer liegt derzeit noch auf einem Bergrücken unter Wasser auf und bremst deshalb den Abfluss Eis auf dem Land in den Ozean.

Zersplittert das Eisschelf, entsteht ein Effekt ähnlich, wie wenn ein Korken gezogen wird: Der Teil des Gletschers, der auf dem Land liegt, könnte dann deutlich schneller als bisher ins Meer rutschen. Es ist jenes Eis, das in der Folge für einen dramatischen Anstieg des Meeresspiegels sorgen würde. „Der Zusammenbruch dieses Eisschelfs wird recht schnell einen direkten Anstieg des Meeresspiegels bedeuten“, sagte Pettit.

„Realistisch gesehen ist die aktuelle Entwicklung unumkehrbar“

Schon in den vergangenen 30 Jahren hat sich die Menge des Eises, die aus dem Gletscher ins Meer fließt, verdoppelt. Aktuell trägt der Thwaites-Gletscher vier Prozent jährlich zum Anstieg des Meeresspiegels bei. Zerbricht das Eisschelf, können es bis zu 25 Prozent mehr werden, warnen die Experten. Auch der benachbarte Pine-Island-Gletscher ist bedroht.

Sollte das gesamte Eis des Thwaites-Gletschers abschmelzen, würde das einen Anstieg des Meeresspiegels von bis zu 65 Zentimetern bedeuten. Wegen der großen Wassermassen, die in seinem Eis gespeichert sind, trägt er deshalb auch den Beinamen „Doomsday“-Gletscher, also „Gletscher des jüngsten Gerichts“.

Ein vollständiger Kollaps des gesamten Gletschers würde wohl Jahrzehnte bis Jahrhunderte dauern, sagt Schmidtko. Doch einmal in Gang gesetzt, ließe er sich kaum aufhalten. „Realistisch gesehen ist die aktuelle Entwicklung unumkehrbar, zumindest für viele Jahrzehnte“, so der Wissenschaftler.