Berlin. Herausforderer Joe Biden führt in Umfragen deutlich vor US-Präsident Donald Trump. Einen Sieg bedeutet dies aber noch lange nicht.

In weniger als 100 Tagen schreiten die Bürger der Vereinigten Staaten von Amerika zu den Wahlurnen, um ihren neuen Präsidenten zu wählen – oder um Donald Trump wiederzuwählen. Eine weitere Amtszeit des 74-Jährigen gilt nach aktuellen Umfragen jedoch als höchst unwahrscheinlich. Zu weit scheint allen Wahl-Experten der designierte Herausforderer der Demokraten, Joe Biden, bereits enteilt. Dazu hat Trump selbst beigetragen. Abschreiben sollte man ihn deshalb aber noch lange nicht.

Ob verfehltes Krisenmanagement in der Corona-Krise, die in den USA bereits mehr als 147.000 Menschen das Leben gekostet hat, der Versuch, die landesweiten Anti-Rassismus-Proteste nach dem Tod von George Floyd mit schwerbewaffneten Staatstruppen niederzuschlagen, oder missglückte Wahlkampfauftritte in halbleeren Arenen – Donald Trump macht derzeit selten eine gute Figur. Seine Wähler strafen ihn dafür ab.

Trump bekäme laut Prognosen des besonders in den USA weit verbreiteten britischen Nachrichtenmagazins „The Economist“ derzeit nur 192 Stimmen von den Wahlmännern der US-Bundesstaaten. 270 bräuchte er, um die Präsidentschaftswahl im November zu gewinnen. Sein demokratischer Herausforderer liegt bei 346 Stimmen des Wahlmännerkollegiums.

Das Wahlsystem der USA sieht vor, dass die Bürger mit ihren Stimmen entscheiden, welche Partei in ihrem jeweiligen Bundesstaat die Mehrheit bekommt. Die Wahlmänner des Bundesstaates – die Anzahl richtet sich nach der Population – geben anschließend alle ihre Stimmen („Winner-takes-it-all“-Prinzip) für den Präsidentschaftskandidaten der jeweiligen Partei ab.

So konnte Donald Trump die Wahl 2016 für sich entscheiden, obwohl landesweit mehr Bürger (popular vote) für seine Kontrahentin Hillary Clinton stimmten. Denn in der Anzahl der gewonnenen Bundesstaaten (electoral vote) hatte Clinton gegenüber Trump das Nachsehen.

Prognose: Biden bekommt zu 99 Prozent Mehrheit aller Stimmen

Ein genauerer Blick auf die vergangene Wahl verdeutlicht, warum sich Trump trotz der desaströsen Umfragewerte noch berechtigte Hoffnungen auf vier weitere Jahre im Weißen Haus machen darf: Auch Hillary Clinton hatte bis zum Wahltag in allen Umfragen vor ihm gelegen. Am Ende siegte Trump dennoch mit 304 Stimmen. Für Clinton gaben lediglich 227 Wahlmänner ihre Stimme ab.

Nun ist Joe Biden nicht Hillary Clinton und die Ausgangslage im Jahr 2020 durch die aktuellen Krisen eine grundlegend andere. Denn Hillary Clinton war vor vier Jahren die zweitunbeliebteste Präsidentschaftskandidatin, die jemals für eine der beiden großen Parteien – Republikaner und Demokraten – ins Rennen ging. Übertrumpft wurde sie nur noch von: Donald Trump. Biden ist ihr gegenüber deutlich populärer.

Dem US-Nachrichtensender CNN zufolge halten die US-Bürger Joe Biden für deutlich ehrlicher als Donald Trump (48 Prozent versus 36 Prozent). Clinton und Trump hatten damals gleichauf gelegen. Mehr noch: Die Mehrheit hielt Trump im Vergleich zu Clinton sogar für gemäßigter, um nicht zu sagen: bescheidener. Bei Trump und Biden läuft dieser Vergleich ebenfalls völlig konträr zu 2016. Dementsprechend sind Bidens Chancen, unentschlossene Wähler von sich zu überzeugen, deutlich höher als es bei Clinton der Fall war.

Schenkt man den Prognosen des Magazins „The Economist“ Glauben, dann führt dies zu einer sagenhaften Wahrscheinlichkeit von 99 Prozent, dass die Mehrheit der Bürger den Demokraten wählen werden. Die Wahrscheinlichkeit, dass Biden auch die meisten Stimmen der Wahlmänner erhält, liegt demnach aktuell bei 91 Prozent.

Trump: Ermutigt durch den Sieg gegen Clinton

„Trump steckt in echten Schwierigkeiten. Seine Umfragewerte sind gesunken, die Leute vertrauen seinem Pandemie-Krisenmanagement nicht oder befürworten es nicht“, schreibt die „New York Times“ dazu. Aber sie schreibt auch: „Er muss einen wirklich harten Kampf um seine Wiederwahl führen.“ Dieser Aspekt ist wichtig. Denn Donald Trump wird tun, was er glaubt tun zu müssen, um sich Wählerstimmen zurückzuholen.

Als Clinton vor vier Jahren vor der Wahl schon fast als Siegerin galt, attackierte Trump die Demokratin wegen ihrer E-Mail-Affäre massiv. Clinton hatte als Außenministerin ein privates Mailkonto für dienstliche E-Mails benutzt. Als dies öffentlich wurde, löschte sie mehr als 30.000 nach eigenen Angaben private Nachrichten, ehe sie ihrem Ministerium Einblick in das digitale Postfach gewährte. Das Vertrauen in die Präsidentschaftskandidatin war erschüttert – und Trump zog ins Weiße Haus.

Nun suchte Trump auch bei Biden bereits frühzeitig nach der dreckigen Wäsche. Fündig wurde er, so proklamierte er es, bei dessen Sohn Hunter. Hunter Biden war 2014 in den Verwaltungsrat von Burisma Holdings berufen worden – dem größten privaten Gasproduzenten der Ukraine. Trump warf Biden Senior daraufhin Korruption vor. Doch der Vorwurf wurde in der Ukraine-Affäre zum Boomerang.

Angewidert und beschämt - Texaner wenden sich von Trump ab

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    Schließlich soll Trump höchstpersönlich die ukrainische Regierung in einem Telefonat am 25. Juli 2019 aufgefordert haben, für entsprechende Gegenleistungen Ermittlungen gegen den Sohn seines Konkurrenten einzuleiten. Ein Mitarbeiter der CIA hörte davon und legte Beschwerde ein. Am Ende musste Donald Trump ein von den Demokraten eingeleitetes Amtsenthebungsverfahren wegen Machtmissbrauch über sich ergehen lassen – und überstand es. Der Senat, in dem Trumps Republikaner die Mehrheit haben, stimmte dagegen, den US-Präsidenten seines Amtes zu entheben.

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    Doch die Schlacht um die nächsten vier Jahre Präsidentschaft ist noch nicht vorbei. Trumps Versuch, die Briefwahl in Zeiten der Corona-Pandemie als Mittel für Wahlbetrug darzustellen, bezeugt die Bereitschaft des 74-Jährigen, mit allen Mitteln um seinen Verbleib im Oval Office zu kämpfen. Eine Niederlage kommt für ihn ohnehin nicht infrage. Ob er sie überhaupt akzeptieren würde, wenn es soweit käme, ließ der US-Präsident zuletzt offen.

    Doch die Bürger neu von seinen Fähigkeiten als Präsident, der Amerika wieder großartig machen wird („Make America Great Again“), zu überzeugen, dürfte ein schwieriges Unterfangen werden. Eine gemeinsame Umfrage des „Wall Street Journal“ und des TV-Senders NBC verdeutlichen die tiefe Unzufriedenheit der Amerikaner. So glauben demnach ganze 80 Prozent, dass ihr Land außer Kontrolle geraten ist. Für Trump besonders bedrohlich: Nur 19 Prozent der republikanischen Wähler sind zufrieden mit dem Status Quo.

    Ungeachtet dessen gab sich Trump am Sonntag erneut überzeugt von seiner Wiederwahl. „Die schweigende Mehrheit wird am 3. November sprechen!!!“, verlautbarte er auf Twitter. Und sowieso, die schwachen Umfragewerte seien „falsch“, so der Präsident. Zumindest daran kann er sich derzeit trotz aller Prognosen und Krisen klammern: Im Ergebnis waren sie es schon einmal.

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