Washington. Fanatische Trump-Anhänger stürmen das Kapitol in Washington. Vier Menschen sterben bei den Ausschreitungen. Wie konnte es dazu kommen?

Mitch McConnell, der mächtige Chef der Republikaner im Senat von Washington, hatte nur eine Stunde vorher die Rebellen in seiner Partei gewarnt: „Wenn wir das Ergebnis der Wahl verwerfen, beschädigen wir unsere Republik für immer. Dann gerät unsere Demokratie in eine Todesspirale.”

Ab 14.30 Uhr Ortszeit bekam Amerika am Mittwoch in historisch traumatisierenden Dimension zu spüren, was die wochenlangen haltlosen Tiraden von Präsident Donald Trump, ihm sei die Präsidentschaftswahl im November von den Demokraten um Joe Biden „gestohlen” worden, bewirkt haben.

Trump-Anhänger stürmen das US-Kapitol nach einer Kundgebung mit Präsident Donald Trump in Washington, DC. Sie versammelten sich in der Hauptstadt des Landes, um gegen die Ratifizierung des Sieges des gewählten Präsidenten Joe Biden bei den Wahlen 2020 zu protestieren. (Samuel Corum / Getty Images / AFP)
Trump-Anhänger stürmen das US-Kapitol nach einer Kundgebung mit Präsident Donald Trump in Washington, DC. Sie versammelten sich in der Hauptstadt des Landes, um gegen die Ratifizierung des Sieges des gewählten Präsidenten Joe Biden bei den Wahlen 2020 zu protestieren. (Samuel Corum / Getty Images / AFP)

Kapitol: Trump-Anhänger stürmen das Gebäude

Erst trampelten Hunderte wütende Trump-Anhänger die Sicherheitszäune vor dem Kapitol in Washington nieder. Später stürmten sie das Heiligste der amerikanischen Demokratie, schlugen Fenster zu Bruch, drangen ins Parlament, in dem gerade der formale Schlussakt der Wahl gesetzt werden sollte: die Bestätigung Joe Bidens als 46. Präsident durch Repräsentantenhaus und Senat. Perdu.

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Die Sitzung wurde umgehend abgebrochen, der Kongress hektisch evakuiert, wichtige Unterlagen in letzter Minute in Sicherheit gebracht. Polizei und Sicherheitskräfte hatten allergrößte Mühe, den Mob in Schach zu halten. Selbst Tränengas half zunächst nicht. Dutzende Beamte wurden verletzt, eine Frau erlitt aus noch ungeklärter Ursache lebensgefährliche Schusswunden aus der Waffe eines Polizeibeamten.

Sturm aufs Kapitol: Vier Tote im Zusammenhang mit Ausschreitungen

Die Frau starb später im Krankenhaus. Drei weitere Menschen kamen bei den Ausschreitungen ums Leben. Laut Polizeichef Robert Contee handelte es sich um unterschiedliche medizinische Notfälle. Genaueres sagte er zunächst nicht. Lesen Sie auch: Mike Pence - Trumps politischer Edel-Statist stellt sich quer

Spitzenpolitiker von Kamala Harris, künftige Vizepräsidentin, über Nancy Pelosi bis Chuck Schumer mussten überhastet evakuiert werden, weil bewaffnete Demonstranten bis an die Sitzungssäle gekommen waren. „Es war ein Chaos, das man nur aus anderen Teilen der Welt kennt oder aus schlechten Kinofilmen”, sagte der Referent eines Abgeordneten aus Texas. Washingtons Bürgermeisterin Muriel Bowser, die seit Tagen vor Gewaltausbrüchen gewarnt hatte, verhängte eine Ausgehsperre und forderte die Nationalgarden der benachbarten Bundesstaaten Virginia und Maryland an. Ab 18 Uhr war der Regierungsbezirk abgeriegelt.

Einige der Trump-Anhänger, die das Kapitol in Washington stürmten, waren verkleidet.
Einige der Trump-Anhänger, die das Kapitol in Washington stürmten, waren verkleidet. © Win McNamee/Getty Images/AFP

Donald Trump hetzte seine Anhänger auf

Als die erschütternden Bilder vom Kongress bereits 30 Minuten die Nachmittags-Programme der großen Fernsehsender durcheinander wirbelten, meldete sich auch der zur Wort, der nach Auffassung selbst wohlmeinender Parteifreunde die in dieser Form beispiellosen Ausschreitungen durch permanente Hetze maßgeblich inspiriert hat. Donald Trump twitterte, vermeintlich erschrocken: „Keine Gewalt! Vergessen Sie nicht, wir sind die Partei von Recht und Ordnung.”

Kevin McCarthy, der Chef der Republikaner im Repräsentantenhaus, bezeichnete die an Aufstände erinnernden Szenen hilflos als „unamerikanisch”.

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Dabei war es Trump, der am Mittag „die Lunte gelegt hatte”, wie Kommentatoren am Abend formulieren sollte. Hinter dem Weißen Haus hatte eine Pro-Trump-Organisation eine riesige Bühne aufgebaut, vor der mehr als zehntausend Anhänger bei gefühlten Minus-Temperaturen ihrem Präsidenten „Treue bezeugen” wollten, wie Liz Tyler sagte. Die 63-Jährige war am Abend zuvor aus Eureka in Kalifornien zur großen „Kippt die Wahl”-Demonstration nach Washington gekommen. Warum? „Joe Biden hat einfach nicht gewonnen”, sagt Tyler.

Mike Pence: Vize-Präsident folgt Trumps Befehl nicht

Findet Donald Trump auch. „Wir werden niemals aufgeben, wir werden niemals eine Niederlage eingestehen”, rief der in 14 Tagen abdankende Präsident seinen sichtlich wütenden Anhängern zu, deren Flaggen-Meer bis zum Obelisken, dem Wahrzeichen auf der „Mall”, reichte. Trump wiederholte seine seit Wochen bekannten Standards von der „gestohlenen Wahl”, um dann die Lösung zu präsentieren. „Wenn Mike Pence das Richtige tut, gewinnen wir die Wahl.”

Alles, was der Vizepräsident in der fast zeitgleich stattfindenden Sitzung von Repräsentantenhaus und Senat tun müsse, sei es, die Wahlmänner-Stimmen als „betrügerisch” abzulehnen. Joe Biden hatte auf Basis der Volksabstimmung am 3. November im „electoral college” 306 bekommen, Trump nur 232. Mit 270 wird man in Amerika Präsident.

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Würde Pence, der den Vorsitz in der Sitzung hat, dem unsittlichen Antrag folgen und die Listen zurück an die Parlamente der Bundesstaaten delegieren, bräche er die Verfassung. Darum nahm der Vize seinem Noch-Chef kurz darauf den brutal den Wind aus den Segeln. Sein Eid auf die Verfassung, schrieb der tief religiöse Republikaner in einem Dreizeiler, gestatte ihm die von Trump im Alleingang gewünschte Intervention nicht. Trumps Appell - „Mach es, Mike - diese Zeiten brauchen extremen Mut” - ging ins Leere.

Wird Mike Pence weiter zu Donald Trump stehen? Er könnte bei einer vorzeitigen Absetzung des Präsidenten eine wichtige Rolle spielen.
Wird Mike Pence weiter zu Donald Trump stehen? Er könnte bei einer vorzeitigen Absetzung des Präsidenten eine wichtige Rolle spielen. © Erin Schaff/Pool The New York Times/dpa | Erin Schaff/Pool The New York Times/dpa

Kapitol: Joe Biden trat schnell vor die Kameras

Was sich schnell herumsprechen sollte. Viele Protestierende, die nach Trumps aufstachelnder Rede wie vom Präsidenten gefordert per pedes die zwei Kilometer lange Strecke zum Kapitol auf sich nahmen, ließen ihrer Wut freien Lauf. „Feiger Kerl, wenn es drauf ankommt, dieser Pence, wusste ich immer schon”, sagte Jim Vanderheit. Der 71-Jährige aus Kentucky erklärte, er wolle den Abgeordneten im Parlament einheizen. “Die sollen durch unsere Anwesenheit spüren, dass wir Millionen sind, die sich nicht mit diesem Wahlbetrug abfinden.” „Aber von Gewalt” das betonte der ehemalige Ingenieur, bevor es krachte, „will ich nichts wissen.”

Kommentar: Donald Trump trägt die Schuld für die Gewalt am Kapitol

Während Trump in der Phase von Chaos und Zerstörung lange stumm blieb, obwohl ihn enge Mitarbeiter zu Klartext und Führungsverantwortung anhielten, ging sein Nachfolger Joe Biden schnell live vor der Kameras. Der 78-Jährige wirkte konsterniert: „Unsere Demokratie ist unter beispielloser Attacke”, sagt er und rief den „Mob” auf, sich zurückzuziehen und „der Demokratie ihren Lauf zu lassen”. Biden verlangte von Trump, sofort in einer Fernsehansprache die Lage zu beruhigen und seinen Anhängern Grenzen aufzuzeigen.

Genau das tat Trump nicht, als um 16.30 Uhr ein eilig aufgenommenes Video mit ihm ausgestrahlt wurde. „Die Wahl wurde uns gestohlen”, sagte er ungerührt von den schlimmen Gewaltexzessen an seine Anhänger gerichtet, „ich weiß, wie ihr euch fühlt. Aber ihr müsst jetzt nach Haus gehen. Wir müssen Frieden haben. Wir müssen Recht und Ordnung haben. Es ist eine schwere Zeit. Es war eine betrügerische Wahl. Aber geht jetzt nach Haus.”

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Erst vier Stunden nach der Erstürmung gelang den Sicherheitskräften die Räumung des Kapitols. Der Senat setzte seine Arbeit fort.