Brüssel. Affären und Querelen belasten die EU-Grenzwache Frontex. Stimmen die Vorwürfe? Ein Untersuchungsbericht soll nun Klarheit schaffen.

Eigentlich könnten es ruhige Zeiten für die europäische Grenzschutztruppe Frontex sein. An den Außengrenzen der EU ist wegen Corona weniger zu tun: Im Januar registrierten die Einsatzkräfte nach neuesten Angaben insgesamt nur 5800 illegale Grenzübertritte, halb so viele wie vor einem Jahr.

Dafür steht die Truppe jetzt aus ganz anderen Gründen unter Druck, vor allem Frontex-Chef Fabrice Leggeri. Die europäische Grenz- und Küstenwache wird durch Affären und Querelen belastet, Menschenrechtsverstöße an den Grenzen, ein Betrugsverdacht und andere Vorwürfe stehen im Raum. Wenn diese Woche ein abschließender Untersuchungsbericht auf den Tisch kommt, könnte es eng werden für den angeschlagenen Leggeri. Lesen Sie auch: Türkei: Frontex-Chef erwägt massive Personalaufstockung

Berichte über illegale „Pushbacks“ in der Ägäis

Die Grenzpolizisten im EU-Einsatz sollen es geduldet oder sogar unterstützt haben, dass immer wieder Migranten an den Unionsaußengrenzen unrechtmäßig zurückgeschickt wurden – in Kroatien, Ungarn, aktuell aber vor allem in Griechenland.

Berichte, auch Videoaufnahmen, dokumentieren illegale „Pushbacks“ in der Ägäis durch die griechische Küstenwache: Statt die Flüchtlinge aufzunehmen und ihnen die Möglichkeit zu geben, einen Asylantrag zu stellen, haben griechische Beamte demnach die hilflosen Menschen in ihren Schlauchbooten zurück in türkische Gewässer getrieben.

EU-Vertreter gezielt weggelockt

Zum Teil sollen Frontex-Kräfte vor Ort oder in der Nähe gewesen sein, auch deutsche Bundespolizisten. Zum Teil wurden die EU-Vertreter wohl auch von griechischen Kommandanten gezielt vom Schauplatz des Geschehens weggelockt. Das ist möglich, weil die Frontex-Einsatzkräfte den Weisungen der nationalen Stellen unterworfen sind. Mehr wollen die Länder an den Außengrenzen den fremden Helfern nicht erlauben. Auch interessant: Frontex soll Menschenrechtsverletzungen geduldet haben

Konsequenterweise sind die Frontex-Leute überwiegend keine EU-Beamten, sondern vorübergehend entsandte Polizisten aus den Mitgliedsländern. Aber: Die Frontex-Regularien hätten die Einsatzkräfte verpflichtet, ihre Mission zu beenden, sobald sie von schwerwiegenden Menschenrechtsverletzungen erfahren. Haben sie stattdessen weggesehen?

Frontex-Chef Fabrice Leggeri steht unter Druck.
Frontex-Chef Fabrice Leggeri steht unter Druck. © picture alliance/AP Photo | Virginia Mayo

Leggeri: Verantwortung der nationalen Behörden

Frontex-Chef Leggeri bestreitet das, verweist im Übrigen auf die Verantwortung der nationalen Behörden. Vor Abgeordneten des EU-Parlaments und des Bundestags sprach er von Missverständnissen.

Eine vom Verwaltungsrat der Behörde eingesetzte Experten-Arbeitsgruppe fand in acht untersuchten Fällen keine Beweise für Rechtsverstöße, in fünf Fällen aber sehen die Prüfer „sehr beunruhigt“ die Vorwürfe unzureichend aufgeklärt. Sie verlangen jetzt weitere Untersuchungen und von Leggeri ultimativ belastbare Informationen.

Offenbar im Zerwürfnis mit dem Chef gegangen

Theoretisch gibt es in der Behörde eine interne Aufklärungsinstanz. In der Warschauer Zentrale wurde die Stelle einer Grundrechtsbeauftragten geschaffen, der bis Ende 2020 40 Mitarbeiter angehören sollten, um Hinweisen auf Menschenrechtsverletzungen nachzugehen. Zufall oder nicht, die Mitarbeiter treten erst verzögert im Laufe des Jahres zum Dienst an. Auch interessant: Frontex: Deutschland kann nicht genug Polizei stellen

Und die Grundrechtsbeauftragte Inmaculada Arnaez, die seit 2015 vor Rechtsbrüchen warnte, hat Frontex schon verlassen – offenbar im Zerwürfnis mit dem Chef. Leggeri hatte ihre Stelle 2020 regelwidrig neu ausgeschrieben, das Verfahren wurde gestoppt, es gibt nur eine kommissarische Besetzung – die interne Kontrolle ist gelähmt. Wie ist das möglich?

Tausende Flüchtlinge harren an türkisch-griechischer Grenze aus

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    Neue Flugzeuge, Drohnen oder Fahrzeuge

    Leggeri hatte die Leitung der 2004 für die koordinierte Zusammenarbeit an den Außengrenzen gegründete Behörde 2015 übernommen, in seiner Amtszeit erfuhr Frontex einen enormen Zuwachs an Aufgaben und Mitteln, neue Flugzeuge, Drohnen oder Fahrzeuge wurden angeschafft, was Frontex auch für die Industrie interessant macht.

    Die Behörde wurde in Grenz- und Küstenwache unbenannt, mit rund 1500 Beamten aus den Mitgliedstaaten. Bis 2027 soll die Truppe auf 10.000 Einsatzkräfte ausgebaut werden – davon immerhin 3000 EU-Beamte. Ein enormer Machtgewinn, auch für den Franzosen Leggeri. Er soll die Behördenspitze ganz nach seinen Machtbedürfnissen umgebaut haben. Mehr zum Thema: Wie Frontex die Grenzen Europas schützen soll

    Mitarbeiter klagen über Schikane und brüllende Chefs

    Mitarbeiter klagen über Schikane, Mobbing und brüllende Chefs, was auf Leggeri zielt, mehr noch auf seinen Kabinettschef. Inzwischen hat sich auch die EU-Betrugsbehörde Olaf eingeschaltet. Sie prüft den Verdacht, dass es beim Kauf von – mangelhafter – IT-Software nicht mit rechten Dingen zuging.

    Die EU-Kommission verliert zunehmend die Geduld. Innenkommissarin Ylva Johansson äußerte in einem Schreiben an das Parlament, das unserer Redaktion vorliegt, „Besorgnis“ über die Berichte. Das EU-Parlament hat eine Untersuchungsgruppe eingesetzt.

    Die Sozialdemokraten fordern Leggeris Rücktritt. Doch wirklich in Gefahr gerät der Frontex-Chef, wenn ihm der Verwaltungsrat aus Vertretern der Mitgliedsländer nach Vorliegen des für den 26. Februar erwarteten Untersuchungsberichts das Vertrauen entziehen sollte.