Washington. Vor einem Jahr drang ein wütender Mob ins Parlamentsgebäude ein. Der Tag hinterlässt bleibenden Schaden - für das ganze Land.

Krasser könnte der Kontrast vor diesem historischen 6. Januar in Amerika kaum sein: Nancy Pelosi, Demokratin und Sprecherin des Repräsentantenhauses in Washington, hat eine feierliche Mahnwache angesetzt.

Abgeordnete, die hier vor einem Jahr vor einem marodierenden Mob in Todesangst verharrten, werden Augenzeugenberichte liefern. Polizistinnen und Polizisten, auf die brutale Jagd gemacht wurde, werden ihre immer noch schockierenden Erlebnisse schildern. Historiker ordnen den Vorfall ein.

So soll angemessen und würdig an einen Tag erinnert werden, der weltweit Zweifel an der Haltbarkeit der amerikanischen Demokratie geweckt hat.

Donald Trump, der als Stichwortgeber des blutigen Sturms aufs Kapitol überführte Ex-Präsident, lädt dagegen am Jahrestag der größten Katastrophe seit dem Niederbrennen des Kongresses 1814 durch die Engländer in seinem Florida-Anwesen Mar-a-Lago zur Ego­show.

Zum gefühlt 879. Mal wird er dort die gerichtsfest erwiesene Lüge von der „gestohlenen“ Präsidentschaftswahl 2020 auftischen und den 6. Januar als gerechtfertigten Protest besorgter Patriotinnen und Patrioten umdeuten. Dabei werden ihm Millionen Landsleute erneut applaudieren.

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140 verletzte Polizisten und fünf Todesopfer

Dass Pelosi (als Stellvertreterin einer klaren, aber nicht über alle Zweifel erhabenen Mehrheit im Parlament wie in der Bevölkerung) und Trump den „Tag der Schande“ von gegensätzlichen Planeten aus betrachten, findet seine Entsprechung in frischen Umfragen. Sie zeigen ein immer schon hochgradig polarisiertes Land. Inzwischen aber hat die Spaltung über das, was wahr ist und was nicht, tektonische Ausmaße angenommen.

Insgesamt 60 Prozent der amerikanischen Bevölkerung sehen in Trump den eindeutigen Verursacher des blutigen Putschversuchs seiner Anhänger. Sie wollten an jenem eiskalten Januar-Tag verhindern, dass der Wahlsieg von Joe Biden vom Parlament abgesegnet wird, wie es die US-Verfassung vorschreibt. In einer Rede unmittelbar vor dem Gewaltausbruch rief Trump am Weißen Haus seine Fans in einer geladenen Hetz-Rede dazu auf, „wie verrückt zu kämpfen“. Andernfalls sei Amerika verloren.

Allein 83 Prozent der rund 74 Millionen Trump-Wähler widersprechen dieser auf nachprüfbaren Fakten basierenden Auffassung bis heute. Sie halten, gefüttert durch Trumps rund um die Uhr übers Land niedergehende Propaganda, Joe Biden für einen durch Manipulationen an die Macht gekommenen Präsidenten und erkennen ihn weiterhin nicht an.

70 Prozent glauben, dass es nur der Auftakt war

66 Prozent sind sich bar aller Fakten sicher, dass es flächendeckenden Wahlbetrug gegeben hat. Nur 34 Prozent seiner Wählerklientel sind mit den gewalttätigen Ausschreitungen in der Herzkammer der US-Demokratie nicht einverstanden, die 140 verletzte Polizisten und fünf Tote mit sich brachten.

Doch die USA haben sich seither noch tiefgreifender verändert. Politik­beobachter und Wissenschaftler sind darüber besorgt, dass inzwischen fast 35 Prozent der Amerikaner Gewalt als Mittel der politischen Auseinandersetzung gegenüber dem Staat legitim finden. Vor zehn Jahren lag der Anteil noch bei 15 Prozent. Bei den Republikanern bejahen 40 Prozent die Gewaltoption. Bei den Demokraten sind es 23 Prozent.

Weil fast 70 Prozent der Amerikaner glauben, die Attacken im vergangenen Januar seien nur der Auftakt für eine zunehmend militanter werdende politische Auseinandersetzung gewesen, sehen sich Wissenschaftler mit der Prognose von bürgerkriegsähnlichen Verhältnissen in der mittelbaren Zukunft bestätigt.

Hunderte Verfahren stehen noch aus

Inzwischen sind über 730 Männer und Frauen, die am 6. Januar an den Ausschreitungen beteiligt waren, angeklagt worden. 75 davon, weil sie Polizisten mit „gefährlichen oder tödlichen Waffen“ angegriffen hatten. Bisher sind 70 Urteile ergangen, darunter 31 Gefängnisstrafen. Die bisher höchste – fünf Jahre – bekam ein 54-Jähriger aus Florida, der einen Polizisten brutal mit einer Stange und einem Feuerlöscher traktiert hatte. Hunderte Verfahren stehen noch aus.

Wie erwartet haben sich in dieser Woche Informationen über Trumps ideelle Mittäterschaft verdichtet. Ausgerechnet seine (einzige) Erzfeindin in einer ansonsten handzahmen republikanischen Partei, Liz Cheney, ließ am Sonntag die Nachricht platzen, dass eine bislang namentlich nicht identifizierte Person aus dem allerengsten Umfeld Trumps gegenüber dem Untersuchungsausschuss des Parlaments zum 6. Januar ausgepackt habe.

Danach hat Trump im Speisezimmer neben dem Oval Office am Fernseher stundenlang tatenlos mitverfolgt, wie seine gewalttätigen Anhänger in das Kapitol eingebrochen sind. Einige darunter wollten Vizepräsident Mike Pence und House-Sprecherin Pelosi töten. Erst nach 187 Minuten und mehrfachem Drängen, unter anderem durch Tochter Ivanka Trump, pfiff Trump den Mob per Videoansprache halbherzig zurück.

Cheney erkennt in Trumps Passivität eine „absolute Pflichtvernachlässigung“, die möglicherweise kriminell war. Klar ist für sie, dass eine Person wie Trump „niemals wieder dem Weißen Haus nahe kommen darf“. Das sieht ein Viertel aller Wählerinnen und Wähler anders. Sie befürworten eine erneute Kandidatur des Ex-Präsidenten 2024.