Rudolstadt. Die Anonymen Alkoholiker (AA) treffen sich regelmäßig in Rudolstadt. Der Bedarf ist da, aber die wenigsten Menschen wollen sich helfen lassen.

„Wir sprechen uns nur beim Vornamen an.“ So bin auch ich einfach nur Dominique in einem Raum fremder Menschen, die sich mir alle mit ihrem Vornamen sowie einem kräftigen Händedruck vorstellen und mindestens eine Sache gemeinsam haben. Sie sind trockene Alkoholiker.

Vier Menschen der Anonymen Alkoholiker (AA), die sich regelmäßig in den Räumen des Deutschen Roten Kreuzes in der Breitscheidstraße in Rudolstadt treffen, haben die Redaktion eingeladen, weil sie eine bedenkliche Tendenz feststellen. Die Zahl derer, die ein Problem mit Alkohol haben, wächst - die Bereitschaft, Hilfe zu finden und anzunehmen, jedoch sinkt.

Jeder hatte seinen persönlichen Tiefpunkt

Auf dem Tisch steht Wasser, einen Kaffee gibt es auch. Jeder von ihnen hat seine Geschichte, jeder trägt sein Päckchen und obwohl jeder Lebensweg ganz individuell verlief, haben sie Gemeinsamkeiten, wenn es um ihre Sucht geht.

„Jeder hatte seinen persönlichen Tiefpunkt, bei dem er merkte, dass er Hilfe braucht“, erzählt Gabi*. „Ich habe mehr getrunken, als ich vertragen habe und dann auch direkt aus der Flasche, mit 27 Jahren.“ Ihr Wendepunkt? „Ein Sprung vom Balkon.“ Es folgten vier Wochen „in der geschlossenen Anstalt.“

Andenken, die daran erinnern, wie lange man schon trocken ist.
Andenken, die daran erinnern, wie lange man schon trocken ist. © Dominique Lattich | Dominique Lattich

Debatten im häuslichen Umfeld kennen sie fast alle. „Man denkt, man taugt nichts“, erzählt Gabi weiter. „Mein Mann hat für mich keinen Schluck mehr getrunken.“ Sie wissen allesamt, was es heißt, wenn Angehörige mit unter der Situation leiden. Auch deshalb verstecken viele ihre Sucht.

„Wenn ich etwas aus einer Flasche genommen habe, habe ich das mit Wasser versucht aufzufüllen“, sagt Gabi. Sandra* kennt es. „Klar, die anderen haben sich gewundert, warum der Schnaps oder was auch immer dann so wässrig geschmeckt hat.“ Sandra beschreibt: „Der Körper verlangt einfach danach. Körper und Seele sind zweierlei.“ Sie erzählt von der Reserveflasche, die immer irgendwo gebunkert war - eine Flasche, von der keiner wusste. „Man konnte immer behaupten, nichts getrunken zu haben. Oder man versprach, keinen Tropfen mehr anzurühren“, weiß Sandra noch. Es war eine Welt „voller Lügen und leerer Versprechungen.“

„Ich hatte Angst einkaufen zu gehen, aber Schnaps holen ging immer“

Hinzu kommt die Vernachlässigung, an die sich Karla* noch gut erinnern kann. Sie sei in ihrer Jugend in die Abhängigkeit hineingeschliddert, wie sie beschreibt. „Man brauchte keinen Grund. Wir saßen zusammen und tranken - nur die anderen haben irgendwann aufgehört. Ich habe immer weiter getrunken.“ Sie vernachlässigte ihre Körperpflege, manchmal auch ihre Familie - aber der Alkohol war immer da. „Dafür hat auch das Geld immer gereicht, selbst wenn man sehr rechnen musste“, wirft Gabi ein. Auch Angstzustände spielten fast täglich eine Rolle. „Ich hatte Angst einkaufen zu gehen, aber Schnaps holen ging immer.“

Sie alle wissen: „Alkoholkrank ist man ein Leben lang.“ Gabi erklärt: „Wenn ich heute ein Glas trinken würde, wäre es morgen eine Flasche.“ Ihr neuer Partner Paul* ist ebenfalls bei den AA und sitzt an diesem Tag mit bei uns. „Wir sind nicht freiwillig zu Alkoholikern geworden.“ Und er kennt es aus Erfahrung: „Der Alkoholiker ist ein großer Schauspieler und Vertuscher.“ Sandra ergänzt: „Da war alle Scham weg.“

Die tägliche Hilfe aus einem Buch begleitet einige AA.
Die tägliche Hilfe aus einem Buch begleitet einige AA. © Dominique Lattich | Dominique Lattich

Alle vier sind schon seit Jahren und teils gar Jahrzehnten trocken. Und glücklich damit. Vor allem aber sind sie stolz darauf und das sind auch andere. „Wenn ich heute auf ehemalige Arbeitskollegen treffe, erkennen sie mich manchmal kaum, sind aber stolz auf das, was ich geschafft habe und sagen ,Respekt‘. Ich war so dünn und gelb im Gesicht“, erzählt Karla und erklärt, dass die gelbe Gesichtsfarbe von den schlechten Leberwerten kommt. Sie wissen alle, was einen Alkoholiker auszeichnet, sie erkennen ihn oft schon, ohne auch nur ein Wort mit ihm zu wechseln.

Heute sagt Paul: „Mir macht es nix aus, wenn jemand neben mir trinkt.“ - „Mir schon“, erwidert Sandra. „Mir tut das leid“, erklärt sie, denn sie weiß, wie schnell man in der Abhängigkeit stecken kann. Den Alltag erlebt jeder anders. Karla erzählt, dass sie auch alkoholfreien Getränken eher kritisch gegenübersteht. „Es ist dasselbe Suchtverhalten“, begründet sie. Die Gefahr des Umsteigens auf echten Alkohol findet sie zu groß. Gleichsam ist die Gesellschaft etwas sensibilisierter: „Die Zeiten sind vorbei, in denen Menschen ankamen und sagen ,Na, ein Glas kannste doch.‘“

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AA-Gruppen sind jederzeit überall zu finden

Der Zusammenhalt der AA sei wie in einer Familie. Wenn jemand rückfällig wird, gibt es keine Strafen oder Verständnislosigkeit. Jeder, der sich meldet und spricht, darf ausreden. Jeder darf erzählen, was ihn beschäftigt, niemand muss sprechen, wenn er nicht will. Am Anfang gibt es immer eine Präambel, am Ende den Gelassenheitsspruch. „Und es ist egal, wo du bist: Bei den AA bist du immer überall willkommen, deutschlandweit, wie auch im Ausland“, weiß Gabi, die auch schon andere AA-Gruppen besucht hat. Sie genießt es, wenn sie heute durch den Wald geht und das Rauschen des Laubes, den Gesang der Vögel und das Rauschen des Wassers wahrnimmt. „Das ging im Suff nicht.“ Sie ist sich bewusst, dass sie, wenn sie jetzt rückfällig werden, nicht alt werden würde.

Der Gelassenheitsspruch auf einer Münze.
Der Gelassenheitsspruch auf einer Münze. © Dominique Lattich | Dominique Lattich

Selbstmordgedanken hatten viele von ihnen schon, die Selbstmordrate bei Alkoholikern ist hoch, „weil die Familie, Kinder und Enkel leiden“, erklären sie. Umso wichtiger ist es, das Problem zu erkennen und den Willen zu entwickeln, sich helfen zu lassen. „Du musst selbst den Wunsch haben, mit dem Trinken aufzuhören.“

AA-Treffen immer donnerstags, 19.30 Uhr, Breitscheidstraße 118 in Rudolstadt.

*Namen von der Redaktion geändert.