Herzogenaurach. Nach dem 0:1 gegen Weltmeister Frankreich werden vor dem Spiel gegen Portugal auch von der Mannschaft Taktik und Aufstellung diskutiert.

Sturm und Drang? Kann Ilkay Gündogan. In die Offensive gehen? Haken dran. Der Abteilung Attacke neu beleben? Ja. Oui. Sim. Um es kurz und knapp zu machen: Der Champions-League-Finalist, dessen Künstlerqualitäten unwidersprochen sind und der das deutsche Spiel nach vorne orchestrieren soll, hat am Dienstagabend wie kein anderer DFB-Protagonist zum Angriff geblasen – dummerweise aber erst nach der 0:1-Niederlage zum EM-Auftakt gegen Weltmeister Frankreich in der Münchner Allianz Arena.

„Nach vorne war es zu wenig“

Es war kurz vor der Geisterstunde in der Nacht zum Mittwoch, als der frischgeduschte Gündogan, dem im Spiel zuvor nur selten bis nie der finale Pass in die Tiefe gelingen wollte, doch noch mit Verve in die Offensive ging. Der 30 Jahre alte Fußballer von Manchester City legte sich nach der Partie nahezu ohne Großchancen fest: „Nach vorne war es zu wenig“, sagte Gündogan, der im Hinblick auf das zweite Gruppenspiel gegen Portugal (Sa./21 Uhr) mit Superstar Cristiano Ronaldo hoffte, „dass wir mehr nach vorne spielen und mehr Chancen kreieren“. Seine simple Begründung: „Weil wir es können und eine Mannschaft sind, die offensiv denkt.“

Gündogan stellt die Systemfrage

Doch wie denkt Trainer Joachim Löw? Wer Gündogan in der digitalen Frage-und-Antwort-Runde um Mitternacht aufmerksam zuhörte, der kam nicht um den Eindruck herum, dass sich auch der Wahl-Engländer nach dem chancenarmen Spiel gegen die Franzosen nicht mehr so ganz sicher war. „Ich weiß nicht, was im Kopf des Trainers vorgehen wird. Ob sich an der Formation etwas verändern wird“, sagte Gündogan, der sogar die Systemfrage stellte. 3-4-3 wie gegen Frankreich? Oder gegen Portugal vielleicht doch besser wieder ein konservatives 4-2-3-1? Gündogan nahm den Fuß vom Gas und drückte es diplomatisch aus: „Wir haben zwei Systeme, die wir gut spielen können.“

Weniger diplomatisch war der Mittelfeldmann, als es um die Besetzung einer zu modifizierenden Offensive ging: Seine eindeutige Forderung: Aber bitte mit Sané! „Leroy ist ein Spieler, der den Rhythmus braucht, der das Gefühl braucht, ständig den Unterschied machen zu können“, begann Gündogan sein dreiminütiges Plädoyer für Sané. Und weiter: „Leroy muss generell das Selbstverständnis haben, zu spielen. Er ist ein Spieler, der sich nicht leicht damit tut, die letzten 20 Minuten zu bekommen, um dann im nächsten Spiel zu starten und dann wieder nach 60 Minuten heruntergenommen zu werden.“ Sein eindringliches Schlusswort: „Ich hoffe einfach, dass er so viel Einsatzzeit wie möglich bekommen wird, damit er in diesen Rhythmus kommt. Wir wissen, wie gut er ist und wie gut er uns tun kann. Leroy selbst weiß es auch.“

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Nur der Löw, der weiß das möglicherweise nicht. Oder der Bundestrainer, der bei der nur mäßig erfolgreichen Weltmeisterschaft 2018 bekanntermaßen sogar ganz auf Sanés Dienste verzichtete, sieht es anders. Auch die Systemfrage stelle sich für ihn nicht, antwortete der Fußballlehrer, als ihm diese dann doch gestellt wurde. „Wir hatten statt vier Innenverteidiger nur drei und mit Robin Gosens und Joshua Kimmich zwei offensiv ausgerichtete Mittelfeldspieler.“ Seine Quintessenz: „Wir hatten genug Offensivkräfte auf dem Platz, aber wir müssen bei Laufwegen, Nachrücken und Abstimmung vorne noch besser werden.“

Gosens fordert mehr Zielstrebigkeit

Möglicherweise mit Sané, vielleicht aber auch ohne. Anders als Gündogan wagte es der von Löw lobend erwähnte Turnierneuling Gosens zwar nicht, eine persönliche Sané-Empfehlung auszusprechen, aber Optimierungsbedarf in der vordersten Linie merkte auch er an. Der 26 Jahre alte Profi von Atalanta Bergamo forderte mehr „Zielstrebigkeit“ und eine „bessere Besetzung in der Box“, was ein etwas neumodernes Wort für den in die Jahre gekommenen Strafraum ist. Oder im Fußballdeutsch: „Wir müssen klarer im letzten Drittel sein“, so Gosens.

Kann Leon Goretzka der Mannschaft helfen?

Doch welche Optionen hat Bundestrainer Löw außer die gegen Frankreich aufgelaufenen Thomas Müller, Kai Havertz und Serge Gnabry überhaupt noch ganz vorne? Über Sané, der in seinem Kurzeinsatz gegen Frankreich kein überzeugendes Bewerbungsschreiben für Portugal abgeben konnte, hat Gündogan schon mehr als genug gesagt. Auch Timo Werner, der sicherlich keine Idealbesetzung für die Rolle eines klassischen Mittelstürmers wäre, konnte in der Schlussviertelstunde nicht mehr glänzen. Kevin Volland durfte zwar nur ein paar Minuten spielen. Diese reichten aber aus, um Gedankenspiele über mehr Einsatzzeit erst einmal grundsätzlich zu verwerfen. Der Monaco-Stürmer machte gegen seine Wahl-Heimat so ziemlich alles falsch, was man in so kurzer Zeit falsch machen kann.

Machte beim DFB-Training einen guten Eindruck: Bayern-Star Leon Goretzka (l.).
Machte beim DFB-Training einen guten Eindruck: Bayern-Star Leon Goretzka (l.). © AFP

Vielleicht muss man das Orchester aber auch gar nicht neu zusammenstellen, sondern lediglich den Kapellmeister austauschen. So gilt der genesene Leon Goretzka, der das Frankreich-Spiel nur von der Tribüne aus verfolgen konnte, als ernsthafte Option im zentralen Mittelfeld. Der Bayernbrecher, so der allgemeine Tenor, könnte dem viel zu zögerlichen Offensivspiel der DFB-Auswahl eine neue Wucht verleihen.

Nachdem Fußball-Deutschland (und auch Fußball-Frankreich) seit Tagen über Löws Startelf und Matchplan Bescheid wusste, wollte der 61-Jährige im Hinblick auf einen möglichen Einsatz Goretzkas gegen Portugal sich diesmal nicht direkt wieder in die Karten schauen lassen. „Leon hat gesagt, dass er das Gefühl habe, dass er noch zwei, drei Trainings braucht, um völlig frei zu sein und der Mannschaft zu helfen“, sagte Löw vor den letzten beiden Trainingseinheiten am Donnerstag und Freitag vor dem EM-Entscheidungsspiel gegen Portugal. „Leon wird eine gute Option sein im Laufe des Spiels.“

Leon Goretzka könnte Ilkay Gündogan verdrängen

Die Schlusspointe: Sollte Goretzka tatsächlich eine ernsthafte Option von Anfang an am Sonnabend gegen den Europameister werden, droht ausgerechnet Ilkay Gündogan Opfer einer derartigen Personal- und vielleicht auch Systemrochade zu werden. „Gegen Portugal müssen wir noch einen draufsetzen“, sagte der City-Profi in der Nacht zum Mittwoch, ehe er sich verabschiedete.

Ob es für Gündogan „draußen sitzen“ statt „daraufsetzen“ heißt, wird man man wohl erst am Samstag sehen. Nur die eingeschlagene Richtung bis dahin steht: Vorwärts mit Gebrüll.