Doha. Die Gastgeber finden den europäischen Blick auf die Weltmeisterschaft im Emirat “ungerecht“. Die Darstellungen im Ausland seien falsch.

Und dann wird das Spiel abgepfiffen. Katar verliert gegen die Niederlande mit 0:2, doch am Tisch wird längst über ganz andere Dinge diskutiert. Vorurteile. Rassismus. Abdulla trägt einen weißen Thawb, das typische Gewand der Katarer. Auf dem Tisch verlockt roter Hummus dazu, Fladenbrot in ihn hinein zu tunken. Auf einer großen Leinwand flimmert die Weltmeisterschaft, die hohen Gebäude von Doha funkeln nicht weit entfernt. Gerade sind, fast zu klischeehaft, zwei Katarer in ihrem weißen Gewand mit einem blauen Lamborghini an der Promenade entlanggefahren.

Um Klischees dreht sich derzeit jedoch viel, um Missverständnisse, um Meinungsverschiedenheiten. In Deutschland wird die Menschenrechtssituation in dem arabischen Emirat beklagt, einige boykottieren das Turnier, das eigentlich verbinden soll. Viel wird übereinander geredet, anstatt miteinander. Deswegen hat Abdulla sich bereit erklärt, das vermutlich für eine lange Zeit letzte WM-Spiel seines Landes gemeinsam zu verfolgen.

„Werden viel strenger bewertet“

„Wir sind enttäuscht davon, wie der Westen über die WM debattiert“, sagt er. „Wir haben das Gefühl, dass wir viel strenger bewertet werden als andere Länder zuvor. Wir haben Probleme, wir sind nicht perfekt, das ist kein Land. Aber es gibt auch Fortschritte.“ Diese Denkweise begegnet einem in Katar überall. Schon Gianni Infantino, Präsident des Fußball-Weltverbandes Fifa, hat vor dem Start von einer Doppelmoral Europas gesprochen und damit die Meinung vieler Menschen in der arabischen Welt wiedergegeben. Das Komplizierte an diesem Vorwurf: Er enthält einen Wahrheitsgehalt und wird gleichzeitig von Mächtigen genutzt, um nicht über eigene Probleme reden zu müssen.

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Im Restaurant soll es aber genau darum gehen, um die Probleme, die Widersprüche. An den meisten Tischen sitzen Frauen von den Männern getrennt. Viele der Fußballguckerinnen sind verschleiert, aber auch westliche Mode mischt sich zwischen die traditionellen Gewänder. 28 Jahre alt ist Abdulla, nicht weit entfernt liegt das – für deutsche Verhältnisse – riesige Anwesen seiner Familie, in dem er lebt, wenn er seine Heimat Doha besucht. Seit einem Jahr arbeitet er für die Regierung in London, doch er plant bereits, bald zurückzukehren.

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Rund drei Millionen Menschen wohnen in dem flächenmäßig kleinsten WM-Gastgeberland der Geschichte. Nur jeder Zehnte besitzt eine katarische Staatsbürgerschaft. Das Bild prägen Frauen und Männer, die eingewandert sind. Die Katarer selbst ziehen sich eher zurück; für diesen Artikel war es schwierig, jemanden zu gewinnen. Abdulla möchte kein Bild von sich in der Zeitung sehen, genauso wenig soll sein Familienname abgedruckt werden, nur verschlossene Offenheit ist möglich.

Eine katarische Zuschauerin verfolgt das letzte WM-Spiel ihrer Mannschaft gegen die Niederlande im Stadion.
Eine katarische Zuschauerin verfolgt das letzte WM-Spiel ihrer Mannschaft gegen die Niederlande im Stadion. © Imago | Imago

Er wisse noch, sagt er, wie er 2010 im Fernsehen verfolgt habe, wie der damalige Fifa-Präsident Sepp Blatter bei der Vergabe den Zettel mit dem Namen Katar hochgehalten hat. „Das war etwas sehr Besonderes.“ Das Spiel auf der Leinwand verrät jedoch währenddessen, dass es der Gastgeber nicht geschafft hat, in den folgenden zwölf Jahren eine Mannschaft zu formen, die sportlich mithalten kann.

Null Punkte nach drei Spielen, nur ein Tor – ein Debakel für Katar, das 2019 noch die Asienmeisterschaft gewonnen hatte. „Wir sind enttäuscht, dass die Spieler nicht wie erwartet performt haben. Aber so sind die Spiele, man gewinnt und verliert“, sagt Abdulla. Langsam dreht sich das Gespräch um die aufwühlenden Themen, um die verschiedenen Ansichten. Die deutsche Nationalmannschaft durfte nicht mit der One-Love-Binde auflaufen, teilweise werden Fans Regenbogen-Symbole abgenommen. „Für uns ist das LGBTQ-Armband ein Affront. Wir empfinden es als einen Akt der Provokation, dass wir unsere Kultur und Religion ändern sollen“, meint Abdulla. In Doha gebe es Homosexuelle, sie würden nicht verfolgt werden. „Aber in unserer Kultur ist Privatsphäre sehr wichtig. Das gilt für alle Paare, öffentliche Liebesbekundungen sind hier nicht üblich und normalerweise privat.“

Katarische Zuschauer verfolgt das letzte WM-Spiel ihrer Mannschaft gegen die Niederlande im Stadion.
Katarische Zuschauer verfolgt das letzte WM-Spiel ihrer Mannschaft gegen die Niederlande im Stadion. © Imago | Imago

Aus westlicher Sicht stellt sich da natürlich die Frage: Ist das nicht traurig? Er kenne es nicht anders, sagt Abdulla. Dies sei wie beim Alkohol, den habe er noch nie getrunken. „Menschen reden über uns, die Katar nie besucht haben. Frauen können hier frei leben, meine Schwester arbeitet in der Gas-Industrie.“ Niemand müsse sich verschleiern, dies sei nichts Religiöses. In London ziehe er sich ein T-Shirt über, berichtet Abdulla. „Die Darstellungen im Ausland sind falsch.“ Arbeitsmigranten würden die Chance bekommen, mehr Geld als in ihrer Heimat zu verdienen.

Reformen angestoßen

„Was ich nicht verstehe: Wenn in Deutschland eine Firma sich nicht richtig verhält, wird über die Firma diskutiert, nicht über das Land. Hier sind es auch Firmen, die Fehler machen. Aber was absolut sicher ist, ist, dass Katar die Region in Sachen Arbeitsmarktreformen anführt.“ Fragt man bei Amnesty International nach, dann gibt die Menschrechtsorganisation an, dass Katar in der Region tatsächlich das einzige Land sei, das Reformen angestoßen hat. 2017 hat sich die Regierung verpflichtet, gegen die Ausbeutung von Arbeitskräften vorzugehen und das missbräuchliche Kafala-System zu reformieren. Davon könne eine Signalwirkung ausgehen, meint Amnesty. Leider würden die Reformen jedoch nur unzureichend umgesetzt werden. Zudem würde die katarische Geschäftswelt versuchen, die Verbesserungen wieder zurückzudrängen.

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„Ich bin stolz auf mein Land. Nicht, weil wir große Häuser bauen, sondern weil mein Land den Menschen eine gute Bildung gibt, weil wir ein gutes Gesundheitssystem haben. Ich gehöre zu der Generation, die davon profitiert hat“, sagt Abdulla. „Und ich bin auch stolz darauf, wie gut die WM organisiert ist. Jeder ist hier willkommen.“

Nun geht die WM weiter, aber ohne das katarische Team. Abdulla schaut trotzdem zu. Die anderen diskutieren, aus welchem Land Menschen eingebürgert werden müssten, damit Katar künftig sportlich mehr Erfolg haben könnte. Argentinien? „Eher Brasilien“, lautet die Antwort, die Lachen hervorruft. Immerhin der Humor verbindet.