Berlin. Im Onlinehandel werden pro Jahr mehrere hundert Millionen Pakete wieder zurückgeschickt. Vor allem eine Maßnahme könnte dies verändern.

Der Online-Handel wächst. 2021 haben die Deutschen Waren im Wert von 99 Milliarden Euro im Netz bestellt. Hunderte Millionen Pakete sind dabei erst zum Kunden gefahren und dann wieder zurück zum Versender. Das kostet viel Geld und schadet der Umwelt. Angesichts der Debatte über Klimawandel und Nachhaltigkeit stellt sich die Frage: Wie lange geht das noch so? Ein Gespräch mit Wissenschaftler Björn Asdecker, der seit 2010 zu Rücksendungen forscht.

Herr Asdecker, wie kommt man eigentlich dazu, Rücksendungen im Online-Handel zu erforschen?

Asdecker: Lassen Sie mich eines vorweg sagen: Das Thema hat sehr kritische Aspekte. Es ist mir aber wichtig zu betonen, dass der stationäre Handel seine Hände hier nicht in Unschuld waschen sollte. Auch dort gibt es das Problem der Überproduktion und Retouren. Es wird nur weniger darüber gesprochen, weil es nicht erforscht wird. Nun zu Ihrer Frage: Ich erforsche das Thema, weil ich wissen will, was in der Blackbox E-Commerce tatsächlich passiert. Was drin ist in den Lkw, die mit unseren Paketen herumfahren. Ich tue das unter anderem auf einer beschreibenden Ebene, weil man so ein Gespür für die Problemrelevanz bekommt. Außerdem finde ich: Intransparenz ist nie gut für Verbraucher und die Gesellschaft. Sie behindert bewusste Entscheidungen.

Björn Asdecker arbeitet an der Fakultät für Sozial- und Wirtschaftswissenschaften an der Uni Bamberg.
Björn Asdecker arbeitet an der Fakultät für Sozial- und Wirtschaftswissenschaften an der Uni Bamberg. © Universität Bamberg | Benjamin Herges

Wie erforschen Sie Retouren?

Asdecker: Wir können niemanden verpflichten, dass er mit uns die Daten zu Retouren teilt. Wir erheben also Händlerdaten auf freiwilliger Basis und rechnen die Stichprobe konservativ auf den gesamten Markt hoch. Für unsere aktuelle Studie haben wir einen Sprung im Hinblick auf die Genauigkeit machen können. Einerseits weil sich mehr große Händler beteiligt haben, andererseits weil wir erstmals auf eine Studie des Umweltbundesamtes zurückgreifen konnten. Diese hat Verpackungsmengen in den jeweiligen Warengruppen untersucht. Diese Daten erlauben eine deutlich validere Hochrechnung.

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Wie sind die Ergebnisse Ihrer jüngsten Studie ausgefallen?

Asdecker: Wir schätzen, dass 2021 in Deutschland im Online-Handel etwa 530 Millionen Pakete und 1,3 Milliarden Artikel zurückgeschickt worden sind. Die Menge hat im Vergleich zu 2018 und 2019 zugenommen. Da waren es geschätzt 300 bis 350 Millionen Retouren. Das hat natürlich damit zu tun, dass der Online-Handel immer stärker wächst und die Quote der Rücksendungen relativ stabil bleibt.

In welcher Warengruppe wird besonders viel zurückgeschickt?

Asdecker: Etwa 80 Prozent der zurückgeschickten Pakete ordnen wir dem Bereich Fashion zu, bestehend aus Kleidung und Schuhen.

Warum wird in diesen Bereichen so viel zurückgeschickt?

Asdecker: Ein Problem sind definitiv die teilweise willkürlichen Größenangaben. Trotz vorhandener Normen machen die Hersteller, was sie wollen. An dieser Stelle wäre es notwendig, auch auf europäischer Ebene, etwas zu unternehmen, um für Kunden mehr Transparenz zu schaffen. Es gibt technische Lösungen, um Kleidungsstücke zu vermessen. Aber bei den Verbrauchern kommt von den Daten wenig an.

Was sind sonst Gründe für Retouren?

Asdecker: Das gesamte Marktumfeld. Es gibt zu wenige Anreize für den Kunden, sich mit der Bestellung zu beschäftigen. Im Gegenteil: Die Firmen schaffen Bestellanreize und räumen hierfür alle möglichen Hindernisse aus dem Weg. Bestelle ich dann zu viel oder mir gefällt etwas nicht, hat das keine Konsequenzen. Derjenige, der sich intensiv mit Artikeln und Produkten auseinandersetzt, ist eigentlich der Dumme. Er verschwendet Lebenszeit. Und wer sich Gedanken macht und wenig zurückschickt, zahlt auch noch für jene mit, die viel zurückschicken. Denn die Kosten für Retouren sind natürlich im Preis enthalten.

Eine Rücksendegebühr wäre eine solche Konsequenz. Sie ist oft vorhergesagt worden, es gibt sie in Deutschland aber bisher kaum. Fast 90 Prozent der Firmen verzichten darauf, während es in der restlichen EU nur 52 Prozent sind.

Asdecker: Hierfür gibt es einen zentralen Grund. Die großen Versender in Deutschland haben die Kosten für Retouren in den letzten 20 Jahren extrem reduziert. Sie haben ihr ganzes System darauf ausgerichtet, mit hohen Rücksendequoten gut umgehen zu können. Sie lieben Retouren nicht, aber sie haben mit dem Verzicht auf Gebühren Kunden gebunden und ein Verhalten stimuliert, von dem sie profitieren. Gleichzeitig haben sie Barrieren für den Markteintritt von Konkurrenten geschaffen. Ein großer Versender, beispielsweise aus Frankreich, wird sich vermutlich sehr gut überlegen, ob er unter diesen Umständen nach Deutschland kommt.

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Kurzum: Die Gebühr wird es in Deutschland in absehbarer Zeit nicht geben, also nicht im großen Stil?

Asdecker: Ich kann mir zumindest nicht vorstellen, dass einer der führenden Händler seine Position der Stärke freiwillig aufgibt. Gerade im aktuell angespannten Marktumfeld sehe ich das einfach nicht. Und wenn sich bei den Großen nichts tut, werden die Retourenmengen nicht merklich zurückgehen, selbst wenn sich einzelne kleinere Händler zu einer Gebühr durchringen können.

Was könnte eine Gegenbewegung auslösen?

Asdecker: Es gibt aus meiner Sicht nur zwei Szenarien, die eine solche Entwicklung in Gang setzen könnten. Erstens wenn die Kosten für den Transport und die Bearbeitung so ansteigen, dass ein Geschäftsmodell mit hohen Retourenquoten unprofitabel wird. Oder zweitens wenn die Nachhaltigkeitsdiskussion wieder deutlich an Fahrt gewinnt, denn kostenlose Retouren und Nachhaltigkeit passen nicht zusammen. Und selbst dann glaube ich bei den Marktführern nur an eine abgespeckte Version. Denkbar wäre ein Stufenmodell, bei dem nicht mehr alle Rücksendungen kostenlos wären. Beispielsweise wenn bei Amazon nur noch „Prime“-Kunden kostenlos retournieren könnten. Andere Anbieter könnten dann mitziehen.

Könnte nicht die Politik etwas tun?

Asdecker: Ich formuliere das hier nicht als Forderung, aber man könnte sehr wohl darüber nachdenken, ob man die Möglichkeit eines freiwilligen Verzichts auf eine Rücksendegebühr streicht. Laut Bundesgesetz muss ja eigentlich der Kunde in Deutschland für den Rücktransport zahlen, der Händler darf aber darauf verzichten. Eine Rücksendegebühr mit gesetzlicher Grundlage wäre aus meiner Sicht der einzige Weg, um sehr schnell grundlegend etwas zu verändern und die Retourenmengen merklich zu reduzieren.

Retouren haben ihrer Forschung zufolge 2021 geschätzt 795.000 Tonnen CO2 verursacht, so viel wie 6,6 Millionen Autos auf dem Weg von München nach Berlin. Hat die Branche kein Interesse daran, hier etwas zu verändern?

Asdecker: Retouren werden eher unter betriebswirtschaftlichen Aspekten betrachtet, nicht unter Umwelt- oder Nachhaltigkeitsgesichtspunkten. Selbst bei Unternehmen, die eigentlich im Bereich der Nachhaltigkeit im E-Commerce als führend gelten, gibt es da Widersprüche. Auch sie lassen Dinge zu, die man da nicht erwarten würde. Und wenn schon diese Firmen so handeln, wie soll da Druck auf die Standardversender entstehen.

Und die Kunden stören sich nicht daran?

Asdecker: Es gibt auch im Online-Handel eine sogenannte Intentions-Verhaltens-Lücke. Wir alle wissen, dass ein bestimmtes Verhalten nicht nachhaltig ist, wollen eigentlich etwas verändern, tun das aber letztendlich doch nicht. Ich frage mich seit zehn Jahren, was man tun kann, um diese Lücke zu schließen. Und es gibt da offenbar keine Blaupause. Ich persönlich glaube am ehesten an die Wirkung von Information und Transparenz als ein Puzzlestück zur Lösung. Man muss dem Kunden, der sich dafür interessiert, die Möglichkeit geben, sich bewusster zu entscheiden. Und vielleicht muss man die Händler sogar rechtlich dazu verpflichten, mehr Informationen über die Prozesse im Hintergrund, etwa den Umgang mit Retouren, zur Verfügung zu stellen.

Dieser Artikel erschien zuerst auf morgenpost.de.