Essen. „Das Land der Einzelkinder“ erzählt die Brutalität der 1979 eingeführten Ein-Kind-Politik in China. Fast jede Familie war betroffen.

„Je weniger Kinder man hat, umso glücklicher ist man“, so schönfärbte die Propaganda vor 40 Jahren die Zukunft des Volkes durch die Ein-Kind-Politik in China. Welches bislang weitgehend unbeschriebene Leid die brutale Durchsetzung der staatlichen Familienplanung bis zur ihrer Abschaffung 2015 über die Menschen brachte, davon erzählen die heute in den USA lebenden Regisseurinnen Nanfu Wang und Jialing Zhang in ihrer ergreifenden Dokumentation auf Arte.

Die Eingangssequenz von „Das Land der Einzelkinder“ weist den Weg, wo der knapp anderthalbstündige Beitrag hinsteuert. Im ersten Anschein ästhetisch wirkende Aufnahmen von Föten im goldgelben Licht, hart in Kontrast gesetzt zu Aufnahmen aus dem China von heute. Auf den zweiten Blick erkennt man: Das sind keine glücklichen Bilder werdenden Lebens aus dem Mutterleib, sondern bewegungslose kleine Leichen in Formalin.

Getötete Babys landeten tausendfach auf Müllhalden

„Wir kämpfen einen Bevölkerungskrieg“, erklärte die allmächtige kommunistische Partei damals. Lustig ist das alte Propagandamaterial anzusehen: Kinderlieder, Opern, Fernsehspots, traditionelles chinesisches Theater, alles preist die Vorzüge der Ein-Kind-Familie.

Das Grinsen erfriert, wenn eine Hebamme von den Konsequenzen erzählt, denn Millionen Chinesen widersetzten sich dem Zwang zur Kleinfamilie. Sie allein habe 50.000 bis 60.000 Zwangssterilisationen und Zwangsabtreibungen durchgeführt, auch noch im siebten und achten Monat der Schwangerschaft. Und im neunten. Die getöteten Babys landeten dann als „medizinischer Abfall“ deklariert und in gelbe Säcke gesteckt tausendfach auf Müllhalden.

Schwangere wurden von örtlichen Parteifunktionären entführt

Oft wurden Schwangere mit ihrem zweiten Kind von örtlichen Parteifunktionären entführt, mit gespreizten Beinen auf Bambusrosten gefesselt und „wie Schweine“, so die Hebamme, die keine sein durfte, zur Sterilisations-OP gebracht. Aus Reue hat sich die alte Frau der Behandlung unfruchtbarer Frauen verschrieben. Jede erfolgreiche Behandlung würde 100 Abtreibungen ausgleichen, den Hoffnungsschimmer schenkte ihr ein Weissager.

Es sind diese Momente, die die Dokumentation so ergreifend machen. Der verhärmte Dorfvorsteher, der Verweigerern der Ein-Kind-Ideologie die Häuser zerstören, ihren Besitz enteignen musste und der darunter leidet. Ein damaliger Propagandamacher und die oberste Familienplanerin, die starrsinnig ihre Haltung verteidigt. Helfer und Helfershelfer von vielen, die den Willen der Partei durchsetzen mussten, denn die Partei hat immer recht, Opfer müssen gebracht werden.

Wie aus einem bösen Märchen

Und es sind diese Geschichten wie aus einem bösen Märchen, von ausgesetzten, auf der Straße verhungernden Neugeborenen, fast immer Mädchen, weil die Väter unter „Ein Kind“ einen Sohn verstehen, einen Stammhalter. Die Geschichten von Menschenhändlern, die ausgesetzte Babys wie Pfandflaschen aufsammeln, an staatliche Waisenhäuser verkaufen, die sie mit Gewinnspannen wie sonst nur im Drogenhandel möglich im internationalen Adoptionsgeschäft weiter vermarkten.

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Regisseurin Nanfu Wang, selbst Jahrgang 1985, reiste mit der Kamera durchs Land. Und sie lässt auch ihre eigene Familie sprechen. Der Onkel, der seine Tochter zum Sterben aussetzt. Der Großvater, für den Enkelinnen nichts bedeuten. Die Mutter, die der Zwangssterilisation knapp entging, die Tante, die nicht so viel Glück hatte.

Längst gibt es zu wenige junge Menschen in China, die das Wirtschaftswachstum wie gewünscht am Laufen halten können. Am Ende werden auf den Wänden in Nanfus Dorf die neuen Slogans zur Familienplanung über die alten gepinselt: „Ein Kind ist zu wenig. Zwei sind perfekt.“