Berlin. Die Krankheitswelle lässt vielerorts die Kinderbetreuung wackeln. Eltern haben Stress. Das liegt auch an den Männern, so ein Experte.

Die Wellen aus Atemwegs-, Grippe- oder Coronainfektionen bringen viele Kitas in Personalnot. Verkürzte Öffnungszeiten und Notbetreuung sind die Folge. Vereinzelt müssen Einrichtungen tageweise schließen. Zahlen, wie viele davon betroffen sind, gibt es aktuell nicht.

Die Situation bringt viele Familien mal wieder an die Belastungsgrenze: Kinderbetreuung, Haushalt und Job müssen irgendwie koordiniert werden, was auch bei regulären Öffnungszeiten oft eine Mammutaufgabe ist. Kommt kurzfristig die Info „Kita zu!“, dann vergrößern sich Stress und mentale Belastung.

Wie Familien mit solchen Situationen umgehen und Elternpaare sich besser entlasten können, erklärt Martin Bujard vom Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung (BiB). Dort leitet er unter anderem den Forschungsbereich Familie.

Herr Bujard, was bedeuten die Betreuungsausfälle für Familien?

Bujard: Die Situation ist für viele Familien wieder eine große Belastung. Aber zum Glück ist die Lage weniger gravierend als in den harten Lockdown-Zeiten, da es zu keinen langanhaltenden und flächendeckenden Schließungen von Einrichtungen kommt. Es ist leider so: Krankheitswellen sind gerade für Familien schon immer eine Herausforderung. Eltern sind zur Improvisation gezwungen – kurzfristig und immer wieder aufs Neue. Das setzt sehr stark unter Stress.

Gilt das für alle Familien?

Bei kurzfristigen Betreuungsausfällen: ja. Aber in einigen Familien kann die zusätzliche Belastung besser verteilt als in anderen. Besonders hart trifft es Alleinerziehende. Genauso aber auch Paare, bei denen einer der beiden Partner Koordination und Kinderbetreuung schlicht nicht mit übernimmt – meist sind das leider immer noch die Männer. Das haben diverse Studien gezeigt. Manchmal bleibt am Ende nur eine Person übrig, die alles alleine bewältigen muss. Es wäre schon viel gewonnen, würden sich beide Partner bei der Kinderbetreuung abwechseln.

Soziologe Dr. Martin Bujard ist stellvertretender Institutsdirektor des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung (BiB).
Soziologe Dr. Martin Bujard ist stellvertretender Institutsdirektor des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung (BiB). © berlin-event-foto.de | Peter-Paul Weiler

Warum stecken Familien auch 2022 noch in alten Rollenbildern fest?

Das liegt zum einen am nach wie vor sehr rigiden Arbeitsmarkt, der meist am männlichen Vollzeitmitarbeiter orientiert ist. Er macht es Vätern oft schwer, in Teilzeit zu arbeiten – was zudem meistens karrieretechnisch bestraft wird. Frauen dagegen stecken häufig in der Teilzeitfalle. Sie können nicht aufstocken, obwohl sie es häufig wollen.

Hinzu kommt der Gewohnheitseffekt, die sogenannte Traditionalisierungsfalle: Paare, die vor der Phase mit Kindern gleichberechtigt, egalitär gelebt haben, entwickeln ihre Aufgaben und Stärken in der Elternzeit der Frau, samt Stillen und Babybetreuung, unterschiedlich weiter und bleiben, auch wegen der Rahmenbedingungen, in dieser Rollenverteilung stecken, obwohl viele das eigentlich nie wollten.

Was lässt sich dagegen tun?

Es ist ein Anfang, sich der Problematik überhaupt bewusst zu werden. Dann gilt es trotz aller Widrigkeiten aktiv und früh gegenzusteuern. Die Elternzeit gleichberechtigt aufzuteilen ist ein erster Schritt. Danach sollten sowohl die Aufgaben im Haushalt als auch bei der Kinderbetreuung wieder gleichmäßiger aufgeteilt werden.

Unabhängig davon: Lassen sich Kinderbetreuung und Job bei kurzfristiger Kita-Schließung überhaupt sinnvoll unter einen Hut bringen?

Es gibt dafür keine Patentlösung: Die, die Homeoffice machen können, betreuen die Kinder manchmal nebenbei. Wer das schon einmal gemacht hat weiß, dass man hier definitiv nicht von konzentriertem Arbeiten über mehrere Stunden sprechen kann.

Mit größeren Schulkindern mag es etwas besser gelingen als mit Kindergartenkindern, aber egal wie: Mit Betreuung ist Homeoffice nicht das Gleiche wie ohne. Dennoch wird es fälschlicherweise oft gleichgesetzt. Das erhöht den Druck für Betroffene zusätzlich.

Und bei weitem nicht jeder darf oder kann im Homeoffice arbeiten.

Als Alternative bleibt, die Kinder bei Freunden oder Familie unterzubringen. Hilfreich, wer Verwandte in der Nähe hat, ansonsten ist es oft kompliziert zu organisieren. Zeitaufwendiges Telefonieren, Koordinieren, Umplanen, es entstehen Abhängigkeiten. Egal wie, am Ende bleibt die Situation oft eine Belastung, die das sowieso oft hohe Stresslevel noch zusätzlich erhöht.

Mit welchen Folgen?

Viele Mütter wie Väter haben permanent ein schlechtes Gewissen. Sie haben das Gefühl, weder dem Beruf, noch den Anforderungen der Kindererziehung, noch der Partnerschaft gerecht zu werden. Damit umzugehen ist für viele Eltern sehr schwierig und sie versuchen, noch mehr zu leisten, um alle Aufgaben zu erfüllen.

Das führt manchmal dazu, dass Schlaf und Selbstfürsorge zu kurz kommen. Körperliche, aber insbesondere psychische Überlastung sind nicht selten die Folge. Nicht ohne Grund haben Depressionen und Burnout in der Pandemie zugenommen.

Lässt sich das verhindern?

Nie ganz. Aber trotz allem Koordinationsaufwand hilft ein soziales Netz aus Freunden oder Nachbarn, auf die man sich verlassen kann. Das hat die Forschung gezeigt. Auch die Großelterngeneration vor Ort zu haben, macht einen großen Unterschied.

Es ist wichtig, klar um Unterstützung zu bitten und eigene Warnsignale der Überlastung nicht zu ignorieren. Familien sollten sich gegenseitig unterstützen und Hilfe annehmen. Genauso konnten wir in unseren Studien aber auch zeigen, dass schon eine positive Grundhaltung mit einer höheren Lebenszufriedenheit einhergeht.

Leichter gesagt als getan. Haben Sie konkrete Tipps?

Es geht darum, der Situation trotz aller Belastung positive Dinge abzugewinnen: sich etwa zu freuen, mehr Zeit mit den Kindern zu verbringen. Wenn man sich zwei Stunden nur ärgert, dass man nicht arbeiten kann, weil man das Kind betreuen muss, ändert das an der Situation sowieso nichts und niemandem ist geholfen – im Gegenteil.

Es ist viel zielführender, die Zeit als Geschenk zu sehen. Frauen gelingt das oft besser als Männern. Und ergänzend ganz wichtig: Eltern sollten als Entlastung in solchen Situationen unbedingt beide ihre Kinderkrankentage pro Jahr ausschöpfen. Vor allem Väter nutzen diese Möglichkeit zu selten.

Kinderkrankentage: Dieser Anspruch besteht

Laut Bundesfamilienministerium stehen jedem Elternteil 2022 und 2023 pro Kind 30 Kinderkrankentage zur Verfügung, für Alleinerziehende sind es 60 Tage. Bei mehreren Kindern hat jeder Elternteil insgesamt einen Anspruch auf maximal 65 Arbeitstage, bei Alleinerziehenden sind es maximal 130.

Bis einschließlich 7. April 2023 kann das Kinderkrankengeld unter anderem auch dann in Anspruch genommen werden, wenn etwa Schule oder Kindertagesstätte behördlich geschlossen sind.

Dieser Artikel erschien zuerst auf morgenpost.de.